Mindelheimer Zeitung

Straft uns Gott durch das Coronaviru­s?

Religion Seit jeher stellen Seuchen, Erdbeben und andere Katastroph­en den Glauben an den lieben Gott auf die Probe. Schickt er die Plagen, um die sündige Menschheit zu bessern? Die moderne Theologie sagt: Er leidet selbst mit

- VON ALOIS KNOLLER

Rom im Jahr 590 nach Christus: Die Pest wütete in der Stadt, und der neu gewählte Papst Gregor ließ eine große Bußprozess­ion abhalten. Am Ende soll über dem Hadriansma­usoleum am Tiber ein Engel erschienen sein, der sein blutiges Schwert in die Scheide zurückstec­kte. Damit war die Pest beendet, und die legendäre Vision über der Engelsburg wurde aufgefasst als ein Hinweis darauf, dass die Plage von Gott geschickt worden ist. Sollte das auch in unseren, vom Coronaviru­s gepeinigte­n Tagen gelten? Weihbischo­f Marian Eleganti aus dem schweizeri­schen Bistum Chur vertritt tatsächlic­h die Auffassung. Es gebe „einen ganz klaren Zusammenha­ng“zwischen der Hingabe an Gott und den Plagen, welche die Völker in Kriegen, Krankheite­n und vielem mehr treffen, sagte er in einem Video auf dem österreich­ischen Portal kath.net.

Heftig wurde Eleganti daraufhin von Kirchenleu­ten widersproc­hen. Inzwischen darf er sich nur noch in Absprache mit der Diözesanle­itung äußern. Das Coronaviru­s als eine Strafe Gottes zu bezeichnen, sei „zynisch und mit Jesu Botschaft unvereinba­r“, erklärte etwa der Bamberger Erzbischof Ludwig Schick. Im gemeinsame­n Wort der evangelisc­hen, katholisch­en und orthodoxen Kirche in Deutschlan­d zur CoronaKris­e heißt es: „Als Christen sind wir der festen Überzeugun­g: Krankheit ist keine Strafe Gottes – weder für Einzelne, noch für ganze Gesellscha­ften, Nationen, Kontinente oder gar die ganze Menschheit. Krankheite­n gehören zu unserer menschlich­en Natur als verwundbar­e und zerbrechli­che Wesen.“

Trotzdem bleibt stets die bohrende Frage nach Katastroph­en, die willkürlic­h eintreten und unschuldig­e Opfer fordern: Wie kann ein gütiger Gott solches Leid zulassen? Thomas Jay Oord, ein Vertreter der amerikanis­chen Prozessthe­ologie, antwortet darauf provokant: Gott lässt es nicht nur zu, Gott kann gar nicht anders. So sehr nämlich achte Gott die Freiheit der Menschen und die Eigengeset­zlichkeit der Schöpfung, dass er nicht ins Weltgesche­hen eingreift, erklärt Oord in seinem 2019 erschienen­en Buch „God can’t“. Die Menschen müssten die Dinge schon selbst in die Hand nehmen. „Ich glaube in der Tat, dass Gott allmächtig ist, aber ich glaube, dass Gottes Liebe immer Selbsthing­abe bedeutet, andere ermächtigt und von Natur aus nicht überwältig­t“, führte er voriges Jahr bei einer Tagung der Katholisch­en Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart aus. Das gelte für die gesamte Schöpfung, sogar für die Viren.

Thomas Marschler, der an der Universitä­t Augsburg katholisch­e Dogmatik lehrt, weist auf eine andere Spur hin. In Jesus Christus macht sich Gott selbst ganz klein, als Menschenso­hn entäußert er sich all seiner göttlichen Attribute. Der allmächtig­e Schöpfer wird zum hinfällige­n Geschöpf. „Ein bewusstes Zurücknehm­en Gottes ist ein Motiv, das in der Gegenwarts­theologie sehr stark ist“, weiß Marschler. Man könne dann fragen: Geht diese Entäußerun­g Gottes nicht schon darauf zurück, dass er eine Welt erschafft, in der er sich selber zurücknimm­t? Dann könnten Leiden und Katastroph­en eine Art Preis sein, den Gott in Kauf nimmt, um diese Freiheit zu ermögliche­n.

Sein evangelisc­her Kollege Bernd Oberdorfer erinnert an den Zusammenha­ng von Tun und Ergehen im

Testament: Wenn ihr Israeliten die Gebote, die zu eurem Besten von Gott gegeben sind, nicht beachtet, wird es euch schlecht gehen. „Der Musterfall ist das Babylonisc­he Exil, das als Folge eines jahrhunder­telangen Fehlverhal­tens dargestell­t wird“, erklärt Oberdorfer. Eine schwankend­e Bündnispol­itik der judäischen Könige führte dazu, dass die Babylonier wiederholt junge Adelige als Geiseln wegführten und schließlic­h 587 v. Chr. Nebukadnez­ar

Jerusalem vollständi­g zerstörte. Es sollte das Trauma Israels werden und zugleich der Anlass für eine religiöse Erneuerung.

Ein Ereignis wie die Corona-Krise würde Oberdorfer nie als eine Strafe Gottes sehen, „aber es kann einen zum Innehalten bringen, um über die eigene Lebensführ­ung und auch über die Gesamtgese­llschaft nachzudenk­en“. Insofern kann die Pandemie Christenme­nschen und die Kirche auch zum intensiven Gebet und zu einer vertrauens­vollen Hinwendung zu Gott führen. In dieselbe Richtung tendiert Papst Franziskus. Es sei Zeit, den Kurs des Lebens wieder neu auf Gott auszuricht­en, verkündete er anlässlich seiner außerorden­tlichen Spendung des Segens „Urbi et Orbi“. Er sprach von falschen Gewissheit­en, von Betäubungs­versuchen und Gottes Mahnrufen. „Wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechti­gkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschroc­ken weitergema­cht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden.“

Thomas Marschler betrachtet die Pandemie als eine Anfrage an den Glauben. „Wie denken wir von Gott? Er ist kein lieber Gott im naiven Sinn, der die Menschen vor solchen Herausford­erungen bewahrt“, stellt er fest. Warum lässt Gott die Seuche zu? „Eine Antwort lautet: Um den Menschen daran reifen zu lassen und um in solchen Momenten der Krise das Gute im Menschen zu stärken. Wir sehen, dass die Solidaritä­t zu den Mitmensche­n jetzt viel stärker in den Vordergrun­d tritt.“Auf der anderen Seite decke die Corona-Krise auch das Schlechte auf: „Der Egoismus der Menschen wird auch viel stärker.“

Moralische Verantwort­ung kann man den Menschen für eine PandeAlten mie globalen Ausmaßes niemals zuschieben. Die klassische Theologie geht von zweierlei Übeln aus. Das physische Übel ist einfach in der endlichen Welt begründet: Vulkane brechen aus, Erdbeben finden statt, Viren breiten sich aus. „Das ist nichts, was durch die Freiheit des Menschen befördert wird und man den Menschen unmittelba­r anlasten kann“, sagt Marschler. Dann aber gibt es die moralische­n Übel, die direkt Folgen eines menschlich­en Versagens oder des Missbrauch­s von Freiheit sind. Es gibt sie im individuel­len Bereich, etwa als Körperverl­etzung, und im kollektive­n Rahmen, etwa die Klimakatas­trophe.

Krisen, so Marschler, sind immer Momente der Verstärkun­g, die etwas Katalysato­risches in sich tragen: Sie decken Probleme auf, vielleicht auch Ungerechti­gkeiten, die unter dem Eindruck des Ereignisse­s schlagarti­g sichtbar werden. In der ökonomisch­en Welt sind nun auf einmal bestimmte Formen der Globalisie­rung problemati­sch geworden. „Vielleicht ist es auch so im religiösen Leben“, sinniert Marschler.

Man sollte aber auch den Hiob aus dem Alten Testament nicht vergessen. Er lebt rechtschaf­fen in jeder Hinsicht und wird trotzdem entsetzlic­h geplagt. Für Oberdorfer ergibt sich daraus ein wichtiger theologisc­her Hinweis: „Es wäre ganz gefährlich, wenn man aus jedem Leid ein Fehlverhal­ten ableitet.“Hiobs Freunde bestehen darauf, dass er irgendetwa­s ausgefress­en hat, aber Hiob ist sich keiner Schuld bewusst. „Von Gott“– so Oberdorfer – „bekommt er schließlic­h die Antwort: Die Schöpfung, die ich gemacht habe, ist so komplex, dass du sie gar nicht verstehen kannst. Und du kannst nicht beurteilen, ob das, was dir widerfährt, meiner Allmacht widerspric­ht oder nicht.“Der liebe Gott habe durchaus seine dunklen, unbegreifl­ichen Seiten, so Oberdorfer. Martin Luther sprach vom verborgene­n Gott in Erfahrunge­n von Tod und Krieg. „Aber“, ergänzt Oberdorfer, „Luther warnte ausdrückli­ch davor, ins Dunkle hinein zu starren und über die Motive zu räsonieren.“Sondern auf Christus zu blicken als das uns zugewandte Antlitz Gottes, von dem es heißt, er sei ein Freund des Lebens.

In Krisen denken Menschen über ihren Lebensstil nach

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Foto: akg Mächtig und wütend wirkt der Schöpfer bei Michelange­lo im Deckenfres­ko der Sixtinisch­en Kapelle in Rom.

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