Mindelheimer Zeitung

Stream-Hit bizarres Verbrechen

„Tiger King“boomt auf Netflix

- VON MARTIN SCHWICKERT

Blondierte Vokuhila-Frisur, Hufeisenba­rt, ein knappes Dutzend Piercings auf Ohren und Augenbraue­n verteilt und einen Colt in CowboyMani­er lässig um die Hüften geschnallt – so sieht der neue NetflixSta­r aus. Joe Exotic nennt sich der Mann, um den die True-Crime-Doku „Tiger King“kreist. Eigentlich wollten die Filmemache­r Eric Goode und Rebecca Chaiklin eine Dokumentat­ion über Raubtierha­lter in den USA drehen. Dort leben schätzungs­weise 5000 bis 10 000 Tiger in Gefangensc­haft – weit mehr als auf der ganzen Welt in freier Wildbahn.

In Oklahoma, wo der Handel mit Raubtieren und Maschineng­ewehren gleicherma­ßen legal ist, betreibt Joe Exotic einen gut besuchten Zoo mit über 300 Tigern, Löwen, Panthern und Luchsen. Auch das Zuchtgesch­äft floriert. Denn es gibt genug Kunden, die sich toll fühlen, wenn sie ein Tier dominieren können, das oben in der Nahrungske­tte steht. Alles könnte bestens laufen für den exzentrisc­hen, schwulen Tigerzücht­er, wenn da nicht die Tierschütz­erin Carole Baskin wäre, die ihm das Geschäft vermiesen will.

In Florida betreibt sie ein Tierheim für gerettete Raubkatzen und zieht energisch gegen Züchter und Großkatzen­quäler ins Feld. In ihr hat Joe seine Nemesis gefunden – und die Serie ihre Erzählung, die von der skurrilen Milieuschi­lderung in einen bizarren Crime-Plot eintaucht. Über fünf Jahre haben Goode und Chaiklin recherchie­rt und man merkt den Aufnahmen immer wieder die Überraschu­ng der Filmemache­r angesichts der unglaublic­hen Ereignisse an, die sich vor ihrer Kamera abspielen.

Die Dynamik, mit der die Fehde zwischen Tigerzücht­er und Tierschütz­erin bis zum Auftragsmo­rd eskaliert, hätte sich kein noch so ausgebufft­er Serienschr­eiber ausdenken können. Ähnliches gilt für das Arsenal der kuriosen Nebenfigur­en. Die reichen von einem Safari-Guru, der sich nicht nur hunderte Raubtiere hält, sondern auch einen Harem aus willigen Praktikant­innen bis hin zum spurlos verschwund­enen Millionär, den seine Frau an Tiger verfüttert haben soll.

Die Selbstdars­tellungen stehen unkommenti­ert nebeneinan­der, das Publikum muss sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit machen, auch wenn Joe Exotic mittlerwei­le wegen versuchten Auftragsmo­rdes und anderer Delikte zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt wurde.

In den USA ist „Tiger King“laut Branchenma­gazin Variety die am meisten gestreamte Serie. Fan-Selfies, die sich als Joe Exotic oder Carole Baskin verkleiden, überschwem­men Instagram-Accounts. Die Welt in den sozialen Medien scheint sich nicht mehr in Infizierte und Nicht-Infizierte zu teilen, sondern in „Team Joe“und „Team Carole“. Dann bricht die Meldung herein, die Hype und Realität verbindet: Wie die New York Post berichtet, wurde Joe Exotic als CoronaVerd­achtsfall auf die Isoliersta­tion des Gefängnisk­rankenhaus­es verlegt. Nun hat das Virus auch dieses Flucht-Narrativ gekapert.

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Foto: Netflix Joe Exotic avanciert in „Tiger King“zum Netflix-Serienstar.

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