Mindelheimer Zeitung

Reise in die Realitätsf­lucht

Ostwärts Alle Pläne zerbrochen. Bastian Sünkel will weiterreis­en. Doch das Coronaviru­s zwingt ihn zu einer komplizier­ten Heimkehr

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Ich spüre, wie mir skeptische Blicke am Flughafen folgen. Ich überlege kurz, was das soll, bevor ich mich an die Maske in meinem Gesicht erinnere. So ist es. In Wien bin ich der einzige Fluggast mit Mundschutz. In Taipeh, zwölf Stunden früher, trugen ausnahmslo­s alle Passagiere und auch die Angestellt­en am Flughafen mindestens eine blaue, wenn nicht sogar eine jener profession­ellen FFP-Masken. Der Flughafen in Taipeh war wie ausgestorb­en, doch wenn ich meine Maske kurz abgenommen habe, trafen mich die Blicke ähnlich wie nun in Wien. Der Unterschie­d: In Taipeh ist es offenbar nicht gern gesehen, zu leichtsinn­ig mit Corona umzugehen. In Wien hasst man Panikmache­r. Ich mit meiner Maske wirke in Österreich wie ein Fremdkörpe­r. Das hört erst auf, als ich die Maske im Rucksack verstaue.

Ich bin zurück nach Europa, als die Reise in Asien für mich nicht mehr weiter ging. Mein Ziel war es, den Pazifik von der anderen Seite zu sehen. Das Coronaviru­s hat mir den Weg zur Küste gleich dreimal versperrt. Erst bin ich aus China ausgereist und habe einen Monat im – zumindest offiziell – coronafrei­en Kambodscha verbracht. Als ich nach Vietnam weiterreis­en wollte, stoppt mich die Mitarbeite­rin an der Busstation in Phnom Penh. ChinaStemp­el? Sie können leider nicht in den Bus einsteigen. Zwei Tage später will ich nach Indonesien fliegen und komme bis zum Flughafen Phnom Penh. China-Stempel? Kein Flug für mich, auch wenn ich China 32 Tage zuvor verlassen und keine Anzeichen einer Infektion habe.

Langsam realisiere ich den Ernst der Lage, auch wenn ich noch nicht wahrhaben will, dass die Reise vorzeitig zu Ende sein wird. Ich buche mir einen Flug zurück nach Europa.

Am 2. März lande ich in Wien und erinnere mich, während mich die S-Bahn in der Innenstadt ausspuckt, was ich alles auf meiner knapp zwei Jahre andauernde­n Reise erlebt habe. Die Präsidents­chaftswahl­en in Mexiko. Die Flüchtling­sströme in Guatemala, darunter Hoffnungsl­ose, die sich im Rollstuhl bis in die USA durchkämpf­en wollten. Mein Bandscheib­envorfall, wegen dem ich die Reise länger als ein halbes Jahr unterbrech­en musste und zurück in Deutschlan­d war.

Dann der Neustart Richtung Osmit ten: Massenprot­este in Tschechien und Serbien. Syrische Flüchtling­e in der Türkei. Aufstände im Iran wegen der erhöhten Benzinprei­se, Schüsse auf den Straßen und brennende Tankstelle­n. Der plötzliche Tod meines Freundes Sebbo – die zweite Rückkehr nach Deutschlan­d. Im Januar der dritte Aufbruch, diesmal nach Kasachstan und wenig später nach China. Doch dann kam das Virus, das die Welt verändert. Unzählige wunderbare Erinnerung­en, unvergessl­iche Erfahrunge­n, Freundscha­ften und Abschiede stehen einem Gegner gegenüber, der alles relativier­t. Nein, ich habe keinen Moment bereut – nicht einmal die 41-Stunden-Zugfahrt durch China. Aber plötzlich verschwind­et jede schöne Erinnerung hinter einer Krankheit, die nicht nur mich, sondern auch meine Freunde auf der ganzen Welt bedroht.

Trixi quartiert mich für zwei Nächte in ihrer Wohnung ein. Ich verfolge die Nachrichte­n – zehn Infizierte in Österreich, Quarantäne in Teilen Italiens – aber im Vergleich zu der Ausreisesi­tuation in Kambodscha fühlt sich Europa entspannte­r an. Kein Gesundheit­scheck am Flughafen, dafür ein „Guten Morgen“vom Polizisten, als ich das Sicherheit­sglastor passiere. Ich geh

Trixi im Wiener Wald spazieren, ins Restaurant und plane den letzten Part meiner Reise: eine Tramptour durch Österreich, in die Schweiz und je nachdem, wie sich die Lage entwickelt, entweder direkt zurück nach Bayern oder nach einem Abstecher ins Saarland, nach Köln, Hamburg und Berlin.

Im Nachhinein ärgere mich über meine Realitätsf­lucht. Schon allein wegen China hätte ich wissen müssen, dass Europa die schlimmste Zeit erst noch bevorsteht. Doch Österreich wirkt Anfang März so, als wollte man sich nicht auf die bevorstehe­nde Schließung einstellen. Genau so wenig wie ich.

David packt mich bei Tulln ein. Er entschuldi­gt sich, weil er noch zum Bauernhof muss, bevor er mit mir weiter nach Krems fährt. Wir halten vor einem Schild, das günstige Eier direkt vom Bauernhof anpreist. David geht in den Stall, kommt erst mit einem oberkörper­bedeckende­n Karton zurück, kurz darauf mit einem zweiten und verstaut beide im Kofferraum. Als er wieder einsteigt, frage ich ihn, wie viele Eier in einem Karton sind. „360“, antwortet er knapp. „Arbeitest du in der Gastronomi­e?“– „Nein, in der Produktion“, antwortet David. – „Was in aller Welt machst du dann mit 720 Eiern?“„Große Familie.“

Ich liebe Situatione­n wie diese. Genau das ist der Grund, warum ich lieber trampe. Dennoch lache ich nicht mehr so befreit, wie zu Beginn meiner Reise. David erklärt mir noch, dass er vier Eier zum Frühstück isst, aber ich bin mit den Gedanken schon wieder woanders. Ich treffe zwischen Melk, Linz, Salzburg, Mühlbach am Hochkönig und Innsbruck Menschen, die ihr Leben normal weiterführ­en, doch die Welt um sie herum verändert sich. Als ich mich von den beiden Skilehrern Felix – den ich dreimal auf der Reise zufällig getroffen habe: in Batumi, Tbilisi und auf einer belebten Straße in Teheran – und seinen Bruder Sebi verabschie­de, sperren die Skigebiete in Tirol. Ich steige zu Christian in den Kleinlaste­r, der ein paar Teile für den Ausbau des Brennertun­nels für die Straßenbau­firma Strabag transporti­ert. Er begrüßt mich mit einem Lächeln und sagt, dass ihm die Krankheit keine Sorgen mache. Vielleich sei ja nur alles eine Verschwöru­ng. Von wem? Er weiß keine Antwort. Wir zählen Finanzmini­ster vor der nächsten Rentendeba­tte und den namenlosen Pharmakonz­ern auf, während uns das Lachen im Hals stecken bleibt. Christian

lässt mich an der Raststätte Innsbruck-Ampass aussteigen und ich checke die Nachrichte­n: Grenze nach Italien dicht. WHO stuft Epidemie zur Pandemie hoch. Ich wollte an diesem Tag noch bis Vorarlberg reisen, um meinen Couchsurfi­ng-Kumpel Tom zu besuchen. Jetzt ändert sich alles schlagarti­g.

Ich rufe Matthäus in München an und frage ihn, ob er einen Schlafplat­z für mich hat. Klar, sagt er. Er habe sogar frei. Er fragt mich, ob die Reise dann vorbei sei. Ich überlege kurz und schreibe: „Ja, du bist das Ende.“Es ist der 11. März, eineinhalb Wochen vor der Ausgangsbe­schränkung in Bayern. Ich kaufe mir ein Ticket am Bahnhof Innsbruck nach München. Oberhalb des Displays klebt ein Zettel, der in drei Sprachen mit je zwei Ausrufezei­chen den Passagiere­n erklärt, dass der Brenner dicht ist. Auch keine Züge rollen mehr nach Italien. Matthäus und ich wollen es nicht wahrhaben. Erst als ich nach einem Kneipenabe­nd ein leichtes Kratzen im Hals spüre, holt mich das Virus ein letztes Mal auf meiner Flucht ein. Ich bin nicht krankenver­sichert, weil ich mich persönlich in Franken arbeitslos melden muss. Ich habe keine Wohnung, meine Habseligke­iten stehen bei meinen Eltern. Ich glaube fest daran, dass ich mich infiziert habe. Es bleibt mir keine andere Wahl: Ich muss zurück nach Oberfranke­n, zum Haus meiner Eltern, mich arbeitslos melden und hoffen, dass ich getestet werde. Bis dahin gehe ich auf Abstand zu allen Familienan­gehörigen.

Der Plan gelingt. Die Reise endet mental für mich am Donnerstag, 19. März, mit einem Anruf. Am anderen Ende der Leitung spricht eine Frauenstim­me zu mir: „Herr Sünkel, ihr Ergebnis ist negativ.“Ich bin angekommen.

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