Ulrich Matthes über die Nöte seiner Branche
Global Citizen Das gab’s noch nie! Ein riesiges Online-Konzert sammelt Millionen für den Kampf gegen das Coronavirus, feiert die Krisenkräfte – und gewährt dabei Einblicke ins Private. Das Ergebnis: eindrucksvoll, witzig und beklemmend
Am Ende steht eine Zahl. 128 Millionen Dollar. Das ist es, was an Spendenzusagen bei einem noch nie da gewesenen Online-Konzertmarathon in der Nacht zum Sonntag zusammengekommen ist. Ist das viel? Jedenfalls knapp mehr als Trump kürzlich in seiner CoronaWut einzufrieren drohte als Jahresbeitrag der USA an die Weltgesundheitsorganisation – deren Bedeutung, während dieser vollen acht weltweit übertragenen Stunden, Weltberühmtheiten aus Musik und Film, Politik und Wirtschaft immer wieder bekannten – auch Michelle Obama, und Laura Bush. Aber der Abend war ja noch so viel mehr.
Vor allem ein Zeichen, wie es die Popwelt seit Bob Geldofs „Live Aid“1986 gegen den Hunger in Äthiopien nicht mehr gesendet hat. Coldplay-Sänger Chris Martin vor kurzem ein erstes Video online gestellt hatte, um in Zusammenarbeit mit der Nichtregierungsorganisation „Global Citizen“zum Daheimbleiben und zur weltbürgerlichen Solidarität aufzurufen, gab nun Lady Gaga den Geldof und versammelte die Stars: die Rolling Stones und Beyoncé Knowles, Elton John und Jennifer Lopez, Paul McCartney und Billie Eilish, Annie Lennox, Shawn Mendes …
Diese ganzen Zeilen wären mühelos mit Namen zu füllen, zumal Stars aus aller Welt hinzukamen, aus China, aus Indien (auch aus Deutschland, ein bisschen: die Band Milky Chance mit „Stolen Dance“), und weil zudem Schauspieler wie Matthew McConaughey und Lupita Nyong’o, aber auch UN-Generalsekretär António Guterres in Ansprachen die Helden des Abends priesen, deArbeit dann in Kurzreportagen gezeigt wurde: die Menschen an der Front gegen Corona weltweit, medizinisches Personal, aber auch Lieferanten, Helfer. Und das wirkte bei allem Pathos und aller Redundanz über sechs Stunden Vorprogramm und zwei Stunden Hauptshow hinweg tatsächlich eindrucksvoll.
Entscheidend dafür war diesmal das Gegenteil des Geldof-Moments: nicht der Arena-Auftritt, sondern die private Erscheinung. Passend zum Motto waren die Stars selbst zu Hause zu sehen – mehr oder weniger authentisch, weil ja auch nicht wirklich live, aber gerade darin ja auch kenntlich. J.Lo drapierte sich in romantisch beleuchteten Gartenanlagen, McCartney winkte aus einer Furnier-Küche, die grünhaarige Billie Eilish fläzte samt Bruder im neobarocken Neureichen-Wohnzimmer, an Shawn Mendes kuschelNachdem te sich in gemeinsamer Isolation Camilla Caballo (sicher ein Kreischen an Millionen Smartphones auslösend)… – und die Stones fügten sich im geviertelten Bildschirm aus ihren Villen in UK und US zusammen.
Da war es auch eine musikalische Freude, mit einem kratzigen „You Can’t Always Get…“– was man von McCartneys „Lady Madonna“oder von Green Days Billy Joe Armstrong mit „When September Ends“nicht unbedingt sagen kann. Berührend dafür, wie Stevie Wonder im Gedenken an den kürzlich verstorbenen Bill Withers „Lean On Me“sang, viel zu viel dagegen, als schließlich Lady Gaga mit Lang Lang, Andrea Bocelli und Céline Dion „The Prayer“schmetterte. Aber unterhaltend allemal. Und damit das wohl zentrale Dritte dieses Abends, den Jimmy Fallon, Stephen Colbert und Jimmy Kimmel moderen rierten und auch so zeigten, dass die USA zumindest im Entertainment noch die Welt-Supermacht sind.
Das Erste freilich war der gute Zweck. Das Zweite teilte sich unweigerlich mit, bei all den Bekundungen, man schaffe das zusammen, es komme eine Zeit nach Corona: Der Ernst der Lage! Für den steht ein solches Event ja auch. Während wir die Willkür von 800-Quadratmeter-Beschränkungen debattieren – was tobt da andernorts, was rollt da auf Afrika zu! Sogar die als hoffnungsvoll vermittelte Botschaft von Bill Gates mit Frau Melinda kann einen schon schwer schlucken lassen, dass er nämlich schon sehr bald mit einem Impfstoff rechne: Ende des nächsten Jahres schon, Ende 2021 also. Aber nun auch mal lächeln, „Smile“, so sang Lady Gaga auch gleich zu Beginn, den Chaplin-Klassiker, tragik-komisch.