Gustave Flaubert: Frau Bovary (52)
Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshungrig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg
Und tausend andre Dinge! Dazu muß man mit den Grundsätzen der Hygiene völlig vertraut sein, um den Bau von Gebäuden, die Unterhaltung der Haus- und Arbeitstiere und die Ernährung der Dienstboten leiten und kontrollieren zu können. Fernerhin, Frau Franz, muß man die Botanik intus haben. Man muß die Pflanzen unterscheiden können, verstehen Sie, die nützlichen von den schädlichen, die nutzlosen und die nahrhaften, welche Arten man vertilgen und welche man pflegen, welche man hier wegnehmen und dort anpflanzen muß. Kurz und gut, man muß sich in der Wissenschaft auf dem Laufenden halten, indem man die Broschüren und die öffentlichen Bekanntmachungen liest, und immer auf dem Damme sein, um mit dem Fortschritte zu gehen …“
Die Wirtin ließ unterdessen den Eingang des Café Français nicht aus den Augen. Der Apotheker redete weiter: „Wollte Gott, unsre Agrarier wären zugleich Chemiker, oder sie hörten wenigstens besser auf die Ratschläge der Wissenschaft! Da habe ich kürzlich selbst eine große Abhandlung verfaßt, eine Denkschrift von mehr als 72 Seiten, betitelt: „Der Apfelwein. Seine Herstellung und seine Wirkung. Nebst einigen neuen Betrachtungen hierüber.“Ich habe sie der „Rouener Agronomischen Gesellschaft“übersandt, die mich daraufhin unter ihre Ehrenmitglieder (Sektion Landwirtschaft, Abteilung für Pomologie) aufgenommen hat. Ja, wenn so ein Werk gedruckt erschiene…“
Der Apotheker hielt ein. Er merkte, daß Frau Franz von etwas ganz andrem in Anspruch genommen war.
„Sehr richtig!“unterbrach er sich selber. „Eine unglaubliche Spelunke!“
Die Löwenwirtin zuckte so heftig die Achseln, daß sich die Maschen ihrer Trikottaille weit auseinanderzogen. Mit beiden Händen deutete sie auf das Konkurrenzlokal, aus dem wüster Gesang herüberhallte.
„Na! Lange wird die Herrlichkeit da drüben nicht mehr dauern!“bemerkte sie. „In acht Tagen ist der Rummel alle!“
Homais trat erschrocken einen Schritt zurück. Die Wirtin kam die drei Stufen herunter und flüsterte ihm ins Ohr:
„Was? Das wissen Sie nicht? Noch in dieser Woche wird er ausgepfändet und festgesetzt. Lheureux: hat ihm den Hals abgeschnitten. Mit Wechseln!“
„Eine fürchterliche Katastrophe!“rief der Apotheker aus, der für alle möglichen Ereignisse immer das passende Begleitwort zur Hand hatte.
Die Löwenwirtin begann ihm nun die ganze Geschichte zu erzählen. Sie wußte sie von Theodor, dem Diener des Notars. Obgleich sie Tellier, den Besitzer des Café Français, nicht ausstehen konnte, mißbilligte sie doch das Vorgehen von Lheureux. Sie nannte ihn einen Gauner, einen Halsabschneider.
„Da! Sehen Sie!“fügte sie hinzu. „Da geht er! Unter den Hallen! Jetzt begrüßt er Frau Bovary. Sie hat einen grünen Hut auf und geht am Arm von Herrn Boulanger.“
„Frau Bovary!“echote Homais. „Ich muß ihr schnell guten Tag sagen. Vielleicht ist ihr ein reservierter Platz auf der Tribüne vor dem Rathause erwünscht.“
Ohne auf die Löwenwirtin zu hören, die ihm ihre lange Geschichte weitererzählen wollte, stolzierte der Apotheker davon. Mit lächelnder Miene grüßte er nach links und rechts, wobei ihn die langen Schöße seines schwarzen Rockes im Winde umflatterten, daß er wer weiß wieviel Raum einnahm.
Rudolf hatte ihn längst bemerkt. Er beschleunigte seine Schritte.
Da aber Emma außer Atem kam, ging er wieder langsamer. Lachend und in brutalem Tone sagte er zu ihr: „Ich wollte nur dem Dicken entgehen, wissen Sie, dem Apotheker!“
Sie versetzte ihm eins mit dem Ellbogen.
„Was soll das heißen?“fragte er sie. Dabei blinzelte er sie im Weitergehen von der Seite an. Ihr Gesicht blieb unbeweglich; nichts darin verriet ihre Gedanken. Die Linie ihres Profils schnitt sich scharf in die lichte Luft, unter der Rundung ihres Kapotthutes, dessen blaßfarbene Bindebänder wie Schilfblätter aussahen. Ihre Augen blickten geradeaus unter ihren etwas nach oben gebogenen langen Wimpern. Obgleich sie völlig geöffnet waren, erschienen sie doch ein wenig zugedrückt durch den oberen Teil der Wangen, weil das Blut die feine Haut straffte. Durch die Nasenwand schimmerte Rosenrot, und zwischen den Lippen glänzte das Perlmutter ihrer spitzen Zähne. Den Kopf neigte sie zur einen Schulter.
„Mokiert sie sich über mich?“fragte sich Rudolf.
In Wirklichkeit hatte der Ruck, den ihm Emma versetzt hatte, nur ein Zeichen sein sollen, daß Lheureux neben ihnen herlief. Von Zeit zu Zeit redete der Händler die beiden an, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen.
„Ein herrlicher Tag heute! – Alle Welt ist auf den Beinen! – Wir haben Ostwind!“
Frau Bovary wie Rudolf gaben kaum eine Antwort, während Lheureux bei der geringsten Bewegung, die eins der beiden machte, mit einem ewigen „Wie meinen?“dazwischenfuhr, wobei er jedesmal den Hut lüftete.
Vor der Schmiede bog Rudolf mit einem Male von der Hauptstraße ab in einen Fußweg ein. Er zog Frau Bovary mit sich und rief laut:
„Leben Sie wohl, Herr Lheureux! Viel Vergnügen!“
„Den haben Sie aber fein abgeschüttelt!“lachte Emma.
„Warum sollen wir uns von fremden Leuten belästigen lassen?“meinte Rudolf. „Noch dazu heute, wo ich das Glück habe, mit Ihnen …“
Sie wurde rot. Er vollendete seine Phrase nicht und sprach vom schönen Wetter und wie hübsch es sei, so durch die Fluren spazieren zu gehen. Ein paar Gänseblümchen standen am Raine.
„Die niedlichen Dinger da!“sagte er. „Und so viele! Genug Orakel für die verliebten Mädels des ganzen Landes!“Ein paar Augenblicke später setzte er hinzu: „Soll ich welche pflücken? Was denken Sie darüber?“
„Sind Sie denn verliebt?“fragte Emma und hustete ein wenig. „Wer weiß?“meinte Rudolf. Sie kamen auf die Festwiese, auf der das Gedränge immer mehr zunahm. Bauersfrauen mit Riesenregenschirmen, einen Korb am einen und einen Säugling im andern Arme, rempelten sie an. Häufig mußten sie Platz machen, wenn eine lange Reihe nach Milch riechender Dorfschönen in blauen Strümpfen, derben Schuhen und silbernen Ohrringen vorbeizog, alle Hand an Hand. Die Preisverteilung fand statt. Die Züchter traten, einer nach dem andern, in eine Art Arena, die durch ein langes Seil an Pfählen gebildet wurde. Innerhalb des so abgegrenzten Raumes standen die Tiere, mit den Schnauzen nach außen, die ungleich hohen Kruppen in einer unordentlichen Richtungslinie. Schläfrige Schweine wühlten mit ihren Rüsseln in der Erde. »53. Fortsetzung folgt