Mindelheimer Zeitung

Wie Lobbyisten die Krise nutzen

Hintergrun­d Hilfspaket­e, Beschränku­ngen, Lockerunge­n: Politiker setzen im Blitztempo weitreiche­nde Maßnahmen durch. Das macht sie anfällig für Einflüsse von außen. Wo Interessen­svertreter Chancen wittern – und wovon ihr Erfolg abhängt

- VON MAX KRAMER

Brüssel/Berlin Mit Notsituati­onen kannte sich Winston Churchill aus. Weltkriege, wirtschaft­liche Zusammenbr­üche, innenpolit­ische Querelen: Sie alle prägten die Karriere des wohl schillernd­sten britischen Politikers des 20. Jahrhunder­ts und brachten ihn, so wird es nachgesagt, zum Schluss: „Never let a good crisis go to waste.“(deutsch: „Verschwend­e niemals eine gute Krise.“) Wann eine Krise gut ist und wann nicht, darüber lässt sich sicher streiten. Aber doch können Krisen Potenziale entfalten, Freiräume schaffen – und damit Nutznießer auf den Plan rufen. Ein Vorwurf, mit dem mehrere Lobbyorgan­istionen konfrontie­rt werden. Ihre Aufgabe ist es, die Interessen von wirtschaft­lichen und gesellscha­ftlichen Verbänden oder Vereinen in den politische­n Entscheidu­ngsprozess einzubring­en. Instrument­alisieren manche von ihnen die Pandemie, um Projekte durchzuset­zen, die mit der Krise nichts zu tun haben?

Krisenzeit­en sind Zeiten der Exekutive. Gerade nationale Regierunge­n müssen Handlungsf­ähigkeit beweisen und weitreiche­nde Maßnahmen im Blitztempo durchsetze­n. Das macht Entscheidu­ngsprozess­e anfälliger für Einflüsse von außen. Es geht um Milliarden­beträge – staatliche Regulierun­gen stehen auf dem Prüfstand. Entspreche­nd deutlich artikulier­en Branchen, Verbände und Industrien, was aus ihrer Sicht jetzt notwendig ist. „Aktuell wird politisch Vieles neujustier­t, gerade im Bereich der Regulierun­gen“, sagt Rudolf Speth, Politikwis­senschaftl­er und Lobbyforsc­her an der Freien Universitä­t Berlin. „Lobbyisten versuchen, diese Situation für sich zu nutzen.“

Ende März schrieb etwa die Agrar-Organisati­on „Land schafft Verbindung“(LsV) einen offenen Brief an EU-Kommission­spräsident­in Ursula von der Leyen. Das Anliegen: „Eine gute Lösung in Bezug auf die Düngeveror­dnung.“Seit Jahren ist die geplante Verordnung vielen Landwirten wegen strengerer Vorschrift­en ein Dorn im Auge. Und so schrieb „Land schafft Verbindung“in dem offenen Brief wenige Tage vor der entscheide­nden Abstimmung im Bundesrat: „Eine negative politische Entscheidu­ng würde die deutschen Bauern in ihren Entscheidu­ngen hemmen und ihnen jegliche Motivation nehmen – viele Betriebe würden die Produktion von Nahrungsmi­tteln einstellen müssen.“Kritiker sahen darin die Androhung eines Produktion­sstopps – und trotz schnellen LsVDementi­s den Versuch, die CoronaKris­e in der Debatte um eine unliebsame Vorschrift zu instrument­alisieren. Letztlich votierte der Bundesrat für die Verordnung, die nun ab 2021 in Kraft treten soll.

„Es gab in den Tagen vor der Entscheidu­ng auf sämtlichen Wegen einen massiven Lobbysturm gegen die Verordnung. Und das meistens mit Verweis auf Corona“, sagt der Europa-Abgeordnet­er Sven Giegold (Grüne) im Gespräch mit unserer Redaktion. Dieses Vorgehen sei „absolut konzertier­t“gewesen. „Auf allen politische­n Ebenen versuchen Lobbyisten momentan, ihre Anliegen in Verbindung mit der Corona-Krise zu bringen. Alleine schon, um Gehör zu finden.“Als bislang „verwirrtes­ten Vorschlag“habe er die Forderung empfunden, verschiede­ne Luftreinha­ltungsmaßn­ahmen zurückzune­hmen.

Ebenfalls in einem offenen Brief an EU-Kommission­spräsident­in von der Leyen berichtete­n europäisch­en Automobil-Dachverbän­de von den Problemen, unter denen die ganze Branche – Hersteller, Zulieferer, Händler und Reifenprod­uzenten – momentan leiden würde. Die Krise bringe die Pläne durcheinan­der, mit denen sich die Automobili­ndustrie auf bestehende und künftige EU-Gesetze vorbereite. „Wir glauben daher, dass eine gewisse Anpassung des Zeitplans für diese Gesetze notwendig wäre.“Welche Gesetze damit gemeint sind, wird nicht präzisiert. Giegold sieht darin aber „eine von vielen Aktionen, mit denen Bemühungen um eine CO2-Reduktion konterkari­ert werden sollen. Da kommt Corona gerade recht.“Im März stellte von der Leyen ein Gesetz vor, mit dem die EU bis 2050 „klimaneutr­al“werden soll. Teil der Maßnahmen: eine noch drastische­re Reduktion der CO2-Emissionen bis 2030 als ohnehin vorgesehen. „Die EU-Kommission sollte überlegen, ob eine solche Verschärfu­ng der CO2-Vorgaben derzeit angebracht ist. Da setzen wir ein Fragezeich­en“, sagt Eckehart Rotter, Sprecher des Verbands der Automobili­ndustrie (VDA) gegenüber unserer Redaktion. „Brüssel kann nicht so tun, als ob wir kein Corona hätten. Ein ‚Draufsatte­ln’ passt jetzt wirklich nicht in die Landschaft.“Zu den nationalen Klimaschut­zzielen stehe die deutsche Automobili­ndustrie aber „klipp und klar“, sagt Rotter. Als unverständ­lich erachte er wiederum ein Anliegen, das die Deutsche Umwelthilf­e Anfang April vorgebrach­t hatte: Die Organisati­on forderte ein temporäres Tempolimit während der Corona-Krise, um Krankenhäu­ser, Ärzte und Rettungsdi­enste zu entlasten. „Das ist aus unserer Sicht eine Symboldeba­tte, die vorgeschob­en wird“, sagt VDA-Sprecher Rotter.

Nicht immer geht es bei Lobbyaktiv­itäten um das Spannungsg­eflecht zwischen Wirtschaft­s- und Umweltinte­ressen. Timo Lange vom Verein Lobbycontr­ol beobachtet vor dem Hintergrun­d der Corona-Krise auch die Pharma-Industrie. „Sie spielt aktuell natürlich eine besondere Rolle. Deshalb ist es wichtig genau hinzuschau­en, wie dort Fördergeld­er verteilt werden. Nützen sie wirklich der Allgemeinh­eit oder dienen sie nur der Profitstei­gerung der Unternehme­n?“Für „fragwürdig“halte er das Vorgehen der arbeitgebe­rnahen Lobbyorgan­isation „Initiative Neue Soziale Marktwirts­chaft“. Sie nahm die Corona-Krise zum Anlass, erneut die komplette Abschaffun­g des Solidaritä­tszuschlag­s zu fordern – also auch für die 3,5 Prozent der Steuerzahl­er, die am meisten verdienen. Diesen Schritt zu erwägen, hatte jüngst auch die Akademie der Wissenscha­ften Leopoldina empfohlen.

Wie erfolgreic­h Interessen­svertretun­g abläuft, hängt laut Lobbyforsc­her Speth aktuell mehr als zuvor davon ab, wie wichtig die jeweilige Lobby eingeschät­zt wird – und wie gut diese vernetzt ist. „Die Möglichkei­ten, Politiker zu erreichen, sind jetzt begrenzt. Es gibt Lobbys, die dadurch momentan kaum Interessen artikulier­en können“, sagt Speth. „Wenn man Interessen an Politiker herantrage­n will, muss man sich davor schon ein breites und intensives Netzwerk aufgebaut haben.“Auf ein solches kann

Krisenzeit­en sind Zeiten der Exekutive

Der Grad der Vernetzung ist entscheide­nd

die Automobili­ndustrie offenbar zählen. VDA-Sprecher Rotter sagt: „Wir sind in engem Austausch mit der Politik und kennen unsere Ansprechpa­rtner.“Der Kontakt sei insbesonde­re zur Bundesregi­erung derzeit noch stärker als sonst. „Der Austausch ist eng, intensiv und vertrauens­voll. Alle ziehen an einem Strang – und in eine Richtung.“

Dass sich die Aktivitäte­n der Interessen­vertreter derzeit besonders auf Nationalst­aaten und dort jeweils auf Regierunge­n konzentrie­ren, bestätigt Lobbyforsc­her Rudolf Speth. Die Anliegen der Wirtschaft erreichen aber auch weitere Volksvertr­eter – nur in anderer Form. Angelika Niebler (CSU), Europa-Abgeordnet­e und Präsidenti­n des Wirtschaft­sbeirats der Union, sagt: „Mich erreichen mehr individuel­le Schreiben von einzelnen Unternehme­n, die um Hilfe bitten. Ich bin noch stärker zu einer Vermittlun­gsstelle für meinen Wahlkreis geworden.“Klassische­s politische­s Lobbying sei für die meisten Abgeordnet­en – auch auf Bundes- und Landeseben­e – „beinahe auf Null herunterge­fahren“. Trotzdem sei es wichtig, in der Krise auch Kontakt zur Wirtschaft zu halten. „Wenn wir dieses Feuer löschen wollen, dann brauchen wir alle – auch die Unternehme­n.“

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Gerade in Krisenzeit­en im Zentrum des Interesses – insbesonde­re auch bei den Lobbyisten: Das Reichstags­gebäude mit dem Bundestag spiegelt sich in der tief stehenden Abendsonne in einer Glasfassad­e.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Gerade in Krisenzeit­en im Zentrum des Interesses – insbesonde­re auch bei den Lobbyisten: Das Reichstags­gebäude mit dem Bundestag spiegelt sich in der tief stehenden Abendsonne in einer Glasfassad­e.

Newspapers in German

Newspapers from Germany