Mindelheimer Zeitung

Der leichtsinn­ige Herr Johnson

Großbritan­nien Als die Corona-Pandemie schon drohte, machte der Premier lieber „Arbeitsfer­ien“auf dem Land. Kritiker nennen seine Politik „ignorant“

- VON KATRIN PRIBYL

London Boris Johnson ist einmal wieder „guter Laune“. Das hat man in den letzten Wochen äußerst häufig gehört. Selbst als der schwer an der Lungenkran­kheit Covid-19 erkrankte Premiermin­ister auf der Intensivst­ation lag, ließ Downing Street die Nation täglich wissen, dass er wahlweise in „guter Stimmung“oder „extrem guter Stimmung“sei.

Nun erholt sich Johnson auf seinem Landsitz Chequers. Also verkündete Kabinettsm­inister Michael Gove am Sonntag die frohe Kunde über den Zustand des Premiers, auch wenn dies vermutlich nur ein Teil der Wahrheit war. Denn hinter den Kulissen dürfte Panik herrschen, seit ein Bericht der Sunday Times dem Regierungs­chef schwere Versäumnis­se in der Coronaviru­sKrise vorwirft. Johnson habe zu Beginn des Ausbruchs wochenlang den Ernst der Lage nicht erkannt oder nicht erkennen wollen. Die Zeitung beschreibt im Detail jene „38 Tage, in denen Großbritan­nien in die Katastroph­e schlafwand­elte“. Der Report offenbart vor allem Ignoranz und Leichtsinn vonseiten des Premiermin­isters, der nun zunehmend unter Druck gerät.

So schwänzte er in den entscheide­nden Wochen Ende Januar sowie im Februar fünf Krisentref­fen des Kabinetts, verbrachte Mitte Februar lieber fast zwei Wochen lang „Arbeitsfer­ien“auf dem Land. Von dort verkündete er die Verlobung mit seiner 32-jährigen Partnerin Carrie Symonds sowie die Botschaft, dass das Paar Nachwuchs erwarte. Zudem musste er laut Medien andere Privatange­legenheite­n regeln, wie etwa die anstehende Scheidung von seiner Exfrau.

Die Ausbreitun­g des Coronaviru­s? Anders als in anderen Ländern hatte Corona in Großbritan

angeblich keine Priorität in der Regierungs­spitze, die vom BrexitStic­htag am 31. Januar, von Überschwem­mungen und einer Kabinettsu­mbildung abgelenkt war. Wie ein hochrangig­er Berater aus der Downing Street verriet, habe Johnson an Wochenende­n nicht gearbeitet, sondern genoss seine Pausen fernab der Hauptstadt. Der Eindruck sei entstanden, als habe der Konservati­ve keine dringende Krisenplan­ung vorgenomme­n. „Du kannst nicht im Krieg sein, wenn der Premiermin­ister nicht da ist.“Dementspre­chend leichtfert­ig behandelte­n auch seine Mitarbeite­r die drohende Pandemie. Damals schon bezeichnet­e die Opposition von Labour Johnson als „Teilzeit-Premiermin­ister“. Dieser Umstand allerdings könnte tausenden von Menschen das Leben gekostet haben. Denn Johnson war nicht nur abwesend bei jenen wichtigen Meetings. Auch Warnungen von Wissenscha­ftlern – ausgesproc­hen im Januar, wiederholt im Februar – stießen auf „taube Ohren“, heißt es.

Der Lockdown des Landes kam erst am 23. März auf Druck der Bevölkerun­g und als die meisten Lännien der auf dem Kontinent bereits strikte Ausgangsbe­schränkung­en durchgeset­zt hatten. Forderunge­n in den ersten Wochen des Jahres, den Bestand an Schutzausr­üstung aufzustock­en, wurden ebenfalls ignoriert. Bis heute klagen Ärzte, Schwestern und Pfleger, dass sie ohne vernünftig­e Masken und Kittel Patienten behandeln müssen.

Dabei galt das Land viele Jahre lang als gut aufgestell­t für den Fall einer Gesundheit­skrise, wie Wissenscha­ftler betonen. Der Sparkurs der Tory-Regierunge­n nach der Finanzkris­e 2008 aber traf den aus Steuermitt­eln finanziert­en nationalen Gesundheit­sdienst NHS schwer. Vorbereitu­ngen auf eine Pandemie sowie der Aufbau von Vorräten wurden vernachläs­sigt. Die zuständige Gesundheit­sorganisat­ion, Public Health England, ändert deshalb aktuell regelmäßig die Leitlinien. Es wirkt, als richteten sich die Empfehlung­en je nach Lagerbesta­nd. Zurzeit soll das Klinikpers­onal, falls der Nachschub ausgeht, die Patienten ohne Handschuhe und Schutzkitt­el untersuche­n.

Ein Skandal, wie Kritiker monieren. Dutzende Angestellt­e des NHS, die sich mit dem Coronaviru­s infiziert haben, sind bereits gestorben. Insgesamt registrier­te das Königreich bis gestern fast 17000 Krankenhau­s-Tote. Eine erschrecke­nde Bilanz. Es wird geschätzt, dass zusätzlich bis zu 8000 Menschen zu Hause oder in Pflegeheim­en verstorben sind. Getestet wird wegen des Mangels an Tests noch immer viel zu wenig auf der Insel.

Derweil folgt Großbritan­niens Todesrate der Kurve Italiens, obwohl das Vereinigte Königreich einige Wochen Vorlauf und damit Zeit hatte, effektive Vorbereitu­ngen für die Pandemie zu treffen. Boris Johnson dürfte die „gute Laune“vergehen, wenn er in naher Zukunft in die Downing Street zurückkehr­t.

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Foto: Jones, dpa Das verwirbelt­e strohblond­e Haar gilt als eines der Markenzeic­hen von Boris Johnson. Für Kritiker fällt auch sprunghaft­e Politik in diese Kategorie.

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