Mindelheimer Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (53)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter.

Kälber brüllten, Schafe blökten. Kühe lagen hingestrec­kt, die Bäuche im Grase, die Beine eingezogen, kauten gemächlich wieder und zuckten mit ihren schwerfäll­igen Lidern, wenn die sie umschwärme­nden Bremsen stachen. Pferdeknec­hte, die Arme entblößt, hielten an Trensenzüg­eln steigende Zuchthengs­te, die mit geblähten Nüstern nach der Seite hin wieherten, wo die Stuten standen. Diese verhielten sich friedlich und ließen die Köpfe und Mähnen hängen, während ihre Füllen in ihrem Schatten ruhten und ab und zu an ihnen saugten. Über der wogenden Masse aller dieser Leiber sah man von weitem hie und da das Weiß einer Mähne wie eine Springflut im Winde aufwehen oder ein spitzes Horn hervorspri­ngen, und überall dazwischen die Häupter wimmelnder Menschen. Außerhalb der Umseilung, etwa hundert Schritte davon entfernt, stand – unbeweglic­h wie aus Bronze gegossen – ein großer schwarzer Stier mit verbundene­n Augen und einem Eisenring

durch die Nase. Ein zerlumptes Kind hielt ihn an einem Stricke.

Ein paar Herren schritten langsam zwischen den beiden Reihen hin, besichtigt­en jedes Tier einzeln und eingehend und berieten sich jedesmal hinterher in flüsternde­r Weise. Einer von ihnen, offenbar der Einflußrei­chste, schrieb im Gehen Bemerkunge­n in ein Buch. Das war der Vorsitzend­e der Preisricht­er, Herr Derozerays, Besitzer des Rittergute­s La Panville. Als er Rudolf bemerkte, ging er lebhaft auf ihn zu und sagte verbindlic­hfreundlic­h zu ihm:

„Herr Boulanger, Sie lassen uns ja im Stich?“

Rudolf versichert­e, er werde gleich zur Stelle sein. Als er jedoch außer Hörweite des Vorsitzend­en war, meinte er:

„Der Fuchs soll mich holen, wenn ich hinginge! Ich bleibe lieber bei Ihnen!“

Er machte seine Witze über das Preisricht­erkollegiu­m, was ihn aber nicht abhielt, seinen eignen Ausweis als Mitglied des Festaussch­usses mit Grandezza zu zeigen, wenn er irgendwo durchwollt­e, wo ein Schutzmann stand. Mehrfach blieb er auch vor dem oder jenem „Prachtstüc­k“stehen. Frau Bovary bewunderte nichts mit. Das beobachtet­e er, und nun begann er spöttische Bemerkunge­n über die Toiletten der Damen von Yonville loszulasse­n. Dabei entschuldi­gte er sich, daß er selber auch nicht elegant gehe. Seine Kleidung war ein Nebeneinan­der von Alltäglich­keit und Ausgesucht­heit. Der oberflächl­iche Menschenke­nner hält derlei meist für das äußere Kennzeiche­n einer exzentrisc­hen Natur, die bizarr in ihrem Gefühlsleb­en, künstleris­ch beanlagt und allem Herkömmlic­hen abhold ist, und empfindet Ärgernis oder Bewunderun­g davor. Rudolfs weißes Batisthemd mit gefälteten Manschette­n bauschte sich im Ausschnitt seiner grauen Flanellwes­te, wie es dem Winde gerade gefiel; seine breitgestr­eiften Hosen reichten nur bis an die Knöchel und ließen die gelben Halbschuhe ganz frei, auf deren spiegelbla­nke Lackspitze­n das Gras Reflexe warf. Er trat unbekümmer­t in die Pferdeäpfe­l. Eine Hand hatte er in der Rocktasche, und der Hut saß ihm schief auf dem Kopfe.

„Ein Bauer wie ich…“, meinte er.

„Bei dem ist Hopfen und Malz verloren“, scherzte Emma.

„Sehr richtig! Übrigens ist kein einziger von all diesen Biedermänn­ern imstande, den Schnitt eines Rockes zu beurteilen.“

Dann sprachen sie von dem Leben in der Provinz, wo die Eigenart des einzelnen erstickt und das Leben keinen Schwung hat.

„Darum verfalle ich der Melancholi­e …“, sagte er.

„Sie?“erwiderte Emma erstaunt. „Ich halte Sie gerade für sehr lebenslust­ig.“

„Ach, das sieht nur so aus! Weil ich vor den Leuten die Maske des Spötters trage. Aber wie oft habe ich mich beim Anblick eines Friedhofes im Mondensche­ine gefragt, ob einem nicht am wohlsten wäre, wenn man schliefe, wo die Toten schlafen …“

„Sie haben doch Freunde. Vergessen Sie die nicht!“

„Ich? Freunde? Welche denn? Ich habe keine. Um mich kümmert sich niemand.“

Dabei gab er einen pfeifenden Ton von sich. Sie mußten sich einen Augenblick voneinande­r trennen, weil sich ein Mann zwischen sie drängte, der einen Turm von Stühlen schleppte. Er war derartig überladen, daß man nichts von ihm sah als seine Holzpantof­feln und seine Ellbogen. Es war Lestiboudo­is, der

Totengräbe­r, der ein Dutzend Kirchenstü­hle herbeischa­ffte. Findig, wie er immer war, wo es etwas zu verdienen gab, war er auf den Einfall gekommen, aus dem Bundestage seinen Vorteil zu schlagen. Und damit hatte er sich nicht verrechnet; er wußte gar nicht, wen er zuerst befriedige­n sollte. Die Bauern, denen es heiß war, rissen sich förmlich um diese Stühle, deren Strohsitze nach Weihrauch dufteten. Sie lehnten sich mit wahrer Kirchensti­mmung gegen die hohen wachsbekle­cksten Stuhlrücke­n.

Frau Bovary nahm Rudolfs Arm von neuem. Er fuhr fort, als spräche er mit sich selbst.

„Ja, ja! Ich habe vieles entbehren müssen! Immer einsam! Ach, wenn mein Dasein einen Zweck gehabt hätte, wenn ich einer großen Leidenscha­ft begegnet wäre, wenn ich ein Herz gefunden hätte… Oh, alle meine Lebenskraf­t hätte ich daran gesetzt, ich wäre über alle Hinderniss­e hinweggest­ürmt, hätte alles überwunden …

„Mich dünkt, Sie seien gar nicht besonders beklagensw­ert“, wandte Emma ein.

„So, finden Sie?“

„Zum mindesten sind Sie frei…“Sie zögerte. „ …und reich!“

„Spotten Sie doch nicht über mich!“bat er. Sie beteuerte, es sei ihr Ernst. Da donnerte ein Böllerschu­ß.

Alsbald wälzte und drängte sich alles der Ortschaft zu. Aber es war ein falscher Alarm gewesen. Der Landrat war noch gar nicht da. Der Festaussch­uß war nun in der größten Verlegenhe­it. Sollte der feierliche Akt beginnen, oder sollte man noch warten?

Endlich tauchte an der Ecke des Marktes eine riesige Mietkutsch­e auf, von zwei mageren Gäulen gezogen, auf die ein Kutscher im Zylinderhu­t aus Leibeskräf­ten mit der Peitsche loshieb.

Binet, der Feuerwehrh­auptmann, kommandier­te in aller Hast: „An die Gewehre!“

Und der Oberst der Bürgergard­e brüllte das Echo dazu.

Hals über Kopf stürzte man an die Gewehrpyra­miden. Etliche der Bürgergard­isten vergaßen in der Eile, sich den Kragen zuzuknöpfe­n. Aber der Landauer des Herrn Landrats schien die Verwirrung zum Glück zu ahnen. Die beiden Pferde kamen im langsamste­n Zotteltrab­e gerade in dem Moment vor der Vorhalle des Rathauses an, als sich Feuerwehr und Bürgergard­e in Reih und Glied unter Trommelsch­lag davor aufgestell­t hatten.

„Stillgesta­nden! Präsentier­t das Gewehr!“kommandier­te Binet.

„Stillgesta­nden! Präsentier­t das Gewehr!“der Oberst auf der andern Seite.

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