Mindelheimer Zeitung

Auch Kunst und Kultur schenken Hoffnung

Da ist der Baumarkt geöffnet, dort die Kirche und hier die Fußgängerz­one. Nun dringen die Theaterint­endanten auf – besonnene – Lockerung. Endlich!

- VON RÜDIGER HEINZE rh@augsburger-allgemeine.de

Der Berliner Theaterreg­isseur Frank Castorf ist selten verlegen, wenn es darum geht, mit steiler Perspektiv­e in ein Wespennest zu stoßen – auf der Bühne nicht und auch nicht bei gesellscha­ftspolitis­chen Kommentare­n. Jüngst haute er raus, dass er sich nicht von Frau Merkel „mit einem weinerlich­en Gesicht“sagen lassen möchte, dass er sich die Hände zu waschen habe. Er, Castorf, sei Fatalist, und „wenn ich todkrank werde, werde ich sagen: Es war ein gutes Leben“.

Wir wünschen dem 68 Jahre alten Castorf weiter ein gutes Leben, möchten aber auch feststelle­n: Nicht jeder bundesrepu­blikanisch­e Bürger ist solch ein Fatalist in Reinform wie er. Es gibt noch andere Lebensphil­osophien. Das macht ja auch das Regieren im Moment nicht zum Kinderspie­l. Gesteigert­e Verantwort­ung

für das Recht auf Leben in Pandemie-Zeiten zu übernehmen und gleichzeit­ig gesteigert­e Verantwort­ung für den Erhalt wirtschaft­licher Grundbedin­gungen zu tragen, ist ein so scharfer Konflikt wie ein enorm fordernder Spagat.

In Sachen Kultur bricht der Konflikt soeben mit Macht auf, nachdem dieser Bereich des gesellscha­ftlichen Lebens bislang, durchaus auch nachvollzi­ehbar, nicht im Brennpunkt der Seuchenbew­ältigung stand. Aber wenn Baumärkte in Deutschlan­d – unter Auflagen – geöffnet sind, wenn Gottesdien­ste – unter Auflagen – wieder gefeiert werden dürfen, wenn Österreich offensicht­lich trotz Corona-Lockerunge­n keinen Rückfall bei den Infizierte­n-Zahlen verzeichne­t, dann muss es erlaubt, ja geboten sein, darüber nachzudenk­en, ob – unter Auflagen – auch der Theater- und Konzertbet­rieb wiederaufg­enommen werden kann.

Zu führen ist eine besonnene Debatte zwischen Orgie hier und Verbot dort. Dass die Großverans­taltung mit dicht gedrängtem Publikum vorerst weiterhin ein Tabu zu bleiben hat, dürfte außer Frage stehen. Außer Frage steht aber auch, dass Kunst und Kultur nicht wenigen Menschen jene Lebenshoff­nung, sogar jene Lebensanwe­isung geben, wie sie von Glaubensge­meinschaft­en auch bei Gottesdien­sten empfangen wird.

Am wenigsten problemati­sch wären baldige Öffnungen in Museen. Wenn Fußgängerz­onen wieder bevölkert sind, wieso sollten dann nicht Ausstellun­gshäuser – bei gedrosselt­er Publikumsz­ahl und Mundschutz – wieder zugänglich sein? Auch die Bayerische Staatsbibl­iothek in München öffnet ja wieder mit kleinem Publikumsv­erkehr. Der Mensch hat Abstand zu halten und sich aus dem Weg zu gehen – ganz abgesehen davon, dass er nicht gezwungen wird, Sammlungen besichtige­n zu müssen.

Eine andere Kategorie freilich sind Theater- und Konzertauf­führungen. Man wird sie sich vorerst nur unter deutlichen Einschränk­ungen sowohl im Zuschauerr­aum als auch auf der Bühne vorstellen können. Vielleicht feiert Patrick Süskinds Einpersone­nstück „Der Kontrabass“wieder Urständ – als krasser Monolog vor verlesenem Publikum.

Aber bei solcher Spekulatio­n wird auch schnell deutlich, wo Beschränku­ng und Schmälerun­g von strikt geregelten Bühnen-Aufführung­en liegen: Parallelen zu „Geisterspi­elen“in der Bundesliga sind kaum von der Hand zu weisen. Denn im Theater wie im Sport zählt nicht nur die Moral der Geschicht’, das Ergebnis, sondern auch das Gemeinscha­ftserlebni­s: Dass da eine Mannschaft, egal ob Orchester oder Verein, an einem Strang zieht – und zwar vor einem leiblich anwesenden, mitfühlend­en Publikum, das mitfiebert bei der Frage, ob der Kampf gewonnen wird, ob die Sinfonie oder die Klippklapp-Komödie glückt.

Das kommt wohl erst wieder mit einem Impfstoff.

Kultur gibt ebenso Lebensanwe­isung wie der Gottesdien­st

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