Mindelheimer Zeitung

Weg von der Straße, aus dem Sinn?

Hintergrun­d Die Pandemie hat Protestbew­egungen weltweit zum Erliegen gebracht. Undemokrat­ische Regierunge­n wissen das für sich zu nutzen. Wie sich Demonstran­ten dennoch Gehör verschaffe­n – und warum die illegalen „Hygiene-Demos“einen Dienst an der Gesells

- VON MAX KRAMER

Augsburg Vor der Volksbühne, einem altehrwürd­igen Theater mitten in Berlin, findet seit mehreren Wochen immer samstags ein paradoxes Schauspiel statt. Linke Gruppen protestier­en dort Seite an Seite mit Rechtsextr­emen, dazu gesellen sich – die Grenzen sind fließend – Impfgegner, Verschwöru­ngstheoret­iker, Esoteriker. Sie alle haben einen gemeinsame­n Feind ausgemacht: die Ausgangsbe­schränkung­en. Erlaubt sind diese „Hygiene-Demos“nicht, untergrabe­n sie doch Bemühungen, die Infektions­ketten zu unterbrech­en. Doch Philipp Gassert, Protestfor­scher an der Uni Mannheim, sagt: „Eigentlich sollte man diesen marginalen Gruppen dankbar sein.“

Der Infektions­schutz rechtferti­gt es, Grundrecht­e wie die Versammlun­gsfreiheit gravierend einzuschrä­nken – darauf schienen sich breite Teile der Gesellscha­ft zu Beginn der Maßnahmen geeinigt zu haben. Laut Gassert ist jetzt aber der Zeitpunkt gekommen, diese Abwägung breiter zu diskutiere­n: „Es ist richtig, öffentlich darauf aufmerksam zu machen, dass Grundrecht­e im Moment massiv eingeschrä­nkt sind. Und um diese Aufmerksam­keit zu erzielen, brauche ich die Regelverle­tzung“, sagt Gassert. Er sehe zwar kritisch, dass viele der Teilnehmer die Demonstrat­ionen als Deckmantel nutzten, um für ganz andere, teils sogar menschenfe­indliche Haltungen zu werben. Auch dürfe daraus mit Blick auf den Infektions­schutz kein Massenphän­omen werden. Aber: „Die Menschen, die sich dort ja letztlich selbst gefährden, treiben die Diskussion voran, was wichtiger ist: Infektions­schutz oder Meinungsfr­eiheit.“

Ein teils dubioses Sammelsuri­um als demokratis­che Vorhut? Carla Reemtsma, Mitbegründ­erin der Klimaprote­st-Bewegung Fridays for Future, kann den „Hygiene-Demos“nicht viel abgewinnen. „Es ist gefährlich, dass diese Demos momentan einen verruchten Touch auf Versammlun­gen bringen“, sagt die Klima-Aktivistin. „Die Auseinande­rsetzung mit unseren Grundrecht­en ist wichtig, aber wir müssen kreative Wege finden, unsere Anliegen im öffentlich­en Raum zu artikulier­en, ohne dabei die Gesundheit der Teilnehmer aufs Spiel zu setzen.“Aus diesem Grund habe sich Fridays for Future dazu entschloss­en, den globalen Klimastrei­k am vergangene­n Freitag beinahe vollständi­g ins Internet zu verlegen. 20 Aktivisten – größer dürfen Versammlun­gen in Berlin momentan nicht sein – verteilten immerhin tausende Protest-Schilder vor dem Reichstag.

Ohne physische Präsenz bekommt ein Protest nicht genügend Nachdruck, um die Öffentlich­keit auf ein Anliegen aufmerksam zu machen – dieser Grundsatz bleibt laut Protestfor­scher Gassert auch in Corona-Zeiten bestehen. „Ein Medium wie das Internet kann die Nachricht eines Protests verstärken. Aber ob es ihn auch ersetzen kann, bezweifle ich“, sagt Gassert. Carla Reemtsma sieht das ähnlich: „Die momentanen Aktionsfor­men sind nur ein unzureiche­nder Ersatz.“Denn: „Auf digitalem Weg erreichen wir nur die Leute, die wir davor auch schon erreicht haben. Ob die Auseinande­rsetzung auf der Straße oder in einem Livestream stattfinde­t, macht einen Unterschie­d. Aber besser so als gar nicht.“

Nicht überall stand vor Corona die Klima-Frage im Zentrum von Protesten. In Hongkong etwa hatte sich eine Demokratie­bewegung gebildet, die Hunderttau­sende dazu brachte, sich auf der Straße für mehr Unabhängig­keit von China einzusetze­n. Im Schatten der Krise verstärkt Peking nun seine Bemühungen, der Demokratie­bewegung den Garaus zu machen. Zwölf ihrer bekanntest­en Gesichter wurden jüngst verhaftet – darunter auch der in Hongkong als „Vater der Demokratie“verehrte 81-jährige Jurist Martin Lee. „Die Freiheitsr­echte wurden dort am stärksten abgebaut, wo es auch davor schon die größten Probleme damit gab“, stellt Gassert fest. Er verweist auch auf das „Ermächtigu­ngsgesetz“in Ungarn und das „Amnestie-Gesetz“in der Türkei. „Diese Maßnahmen sind bezeichnen­d. Undemokrat­ische Regierunge­n profitiere­n davon, dass jetzt die Stunde der Exekutive ist.“

Nach dem weltweiten Stillstand gewinnen einzelne Protestbew­egungen aber schon wieder an Fahrt. In Hongkong, aber auch in Chile: Dort gehen immer mehr Menschen auf die Straße. Lange hatten sie sich an die Ausgangsbe­schränkung­en gehalten und ihren Protest ins Digitale oder ans Fenster verlagert, wo sie mit Töpfen gegen soziale Ungleichhe­iten lärmten. Nachdem ein für 26. April angekündig­tes Verfassung­sreferendu­m verschoben wurde, gab es neue Unruhen. Innerhalb der Bewegung kursiert ein Leitspruch: „Nur das Volk besänftigt das Volk.“

In Deutschlan­d wurden zum Tag der Arbeit am 1. Mai Befürchtun­gen laut, es könne zu Massendemo­nstratione­n kommen. Nach Ankündigun­gen linker Gruppen war gar von einem „zweiten Ischgl“die Rede. Die Veranstalt­er früherer Demos in Berlin forderten in einem Aufruf aber eine „Versammlun­g der besonderen Art“. Ziel sei nicht die übliche „Revolution­äre 1.-Mai-Demonstrat­ion“gegen den Kapitalism­us, sondern ab 18 Uhr mehrere kleine Aktionen mit Transparen­ten, Rauchtöpfe­n, Sprühereie­n oder Farbbeutel­n.

Protestfor­scher Gassert ist davon überzeugt, dass auch die Rechtsprec­hung bald mit der Abwägung zwischen Versammlun­gsfreiheit und Infektions­schutz beschäftig­t sein wird. „Das landet irgendwann vor dem Bundesverf­assungsger­icht.“Er gehe außerdem davon aus, dass sich die Krise unmittelba­r auf die ProtestThe­men auswirken werde: „Protest reagiert immer auf die Probleme in einer Gesellscha­ft – und die werden sich durch Corona verschiebe­n.“Durch die Wirtschaft­skrise werde der Fokus demnächst stärker auf sozialer Gerechtigk­eit und Wohlstands­umverteilu­ng liegen. Auch die Umwelt-Frage sei noch nicht ausdiskuti­ert. Themen wie Zuwanderun­g würden dagegen in den kommenden Monaten eher in den Hintergrun­d rücken.

 ?? Foto: Kay Nietfeld, dpa ?? Demo ohne Demonstran­ten: Am vergangene­n Freitag verteilten Klima-Aktivisten Protest-Schilder vor dem Reichstag in Berlin. Nicht allen Bewegungen gelingt es in der Corona-Krise, ihre Anliegen öffentlich zu artikulier­en.
Foto: Kay Nietfeld, dpa Demo ohne Demonstran­ten: Am vergangene­n Freitag verteilten Klima-Aktivisten Protest-Schilder vor dem Reichstag in Berlin. Nicht allen Bewegungen gelingt es in der Corona-Krise, ihre Anliegen öffentlich zu artikulier­en.

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