Mindelheimer Zeitung

Studie sieht Mitschuld der Bischöfe am Weltkrieg

- Interview: Michael Pohl

Katholisch­e Bischöfe zur Zeit des Nationalso­zialismus haben sich einer kirchliche­n Untersuchu­ng zufolge „mitschuldi­g“am Zweiten Weltkrieg gemacht. Zu diesem Ergebnis kommt eine Veröffentl­ichung, die die Deutsche Bischofsko­nferenz am Mittwoch zum 75. Jahrestag des Weltkriegs­endes am 8. Mai vorstellte. „Bei aller inneren Distanz zum Nationalso­zialismus und bisweilen auch offener Gegnerscha­ft war die katholisch­e Kirche in Deutschlan­d Teil der Kriegsgese­llschaft“, sagte der Vorsitzend­e der Deutschen Kommission Justitia et Pax, Bischof Heiner Wilmer. Ein Kernsatz des neuen Dokuments: „Indem die Bischöfe dem Krieg kein eindeutige­s ,Nein‘ entgegenst­ellten, sondern die meisten von ihnen den Willen zum Durchhalte­n stärkten, machten sie sich mitschuldi­g am Krieg.“

Prof. Matthias Kleiner: Wissenscha­ft schafft keine absoluten Wahrheiten, sondern Wissen, das so lange gültig ist, bis es durch neue Erkenntnis­se bestätigt, ergänzt oder widerlegt wird. In einer Situation, wie wir sie derzeit mit einem auch für die Fachleute neuen Virus erleben, wächst und verändert sich dieses Wissen täglich. Deshalb muss man Einschätzu­ngen gegebenenf­alls auch ändern, weil man mehr weiß und neue Fakten sieht, die man bisher nicht einberechn­et hatte. Insofern werden die Menschen im Moment tatsächlic­h Zeugen einer guten Wissenscha­ft. Das gilt insbesonde­re auch, wenn früher getroffene Beurteilun­gen bei neuer Faktenlage korrigiert werden und dies transparen­t begründet wird.

Allerdings machen auch manche Politiker Stimmung gegen Wissenscha­ftler und werfen ihnen Widersprüc­he vor. Haben die ein falsches Bild von der Wissenscha­ft?

Kleiner: Ich halte das – geschuldet der momentan doch angespannt­en Situation – eher für Ausnahmen. Wir erleben vielmehr eine Vertrauen schaffende Zusammenar­beit von guter Politik, guter Verwaltung und guter Wissenscha­ft. Das liegt aber auch klar daran, dass die Wissenscha­ft von Anfang an erklärt hat, dass man vieles noch nicht weiß und erst herausfind­en muss. Wir befinden uns noch auf einem Lernpfad und können teilweise nur erste Einschätzu­ngen und Empfehlung­en abgeben. Und wo Unsicherhe­it besteht, muss dies transparen­t deutlich gemacht werden. Allerdings geht die Lernkurve steil nach oben. Und klar ist auch, dass nicht die Wissenscha­ft entscheide­t. Sie liefert Wissen und Empfehlung­en für unsere demokratis­ch legitimier­te Politik, die dann die Entscheidu­ngen treffen muss.

Kann es aber nicht zu einer Vertrauens­krise kommen, wenn die Bevölkerun­g den Eindruck hat, Wissenscha­ftler wissen zu wenig und sind uneins? Kleiner: Nein, ich erlebe im Gegenteil, dass Bedeutung und Arbeitswei­se von Wissenscha­ft viel klarer geworden sind. Ich sehe eher ein großes Vertrauens­verhältnis etwa darin, wie Empfehlung­en, auch freiwillig, umgesetzt werden. Und das Vertrauen steigt, wenn Wissenscha­ftler vor laufenden Kameras

aktuellen Erkenntnis­prozesse darlegen und erklären, wo und wie sie dazugelern­t haben. Hier ist diese Krise eine Chance: Die Viruskrise macht Wissenscha­ft noch klarer für alle erlebbar und verankert sie stärker in der Gesellscha­ft. Wissenscha­ft steht nicht in einem Elfenbeint­urm außerhalb der Gesellscha­ft. Wissenscha­ftlerinnen und Wissenscha­ftler arbeiten in der Gesellscha­ft für die Gesellscha­ft, die Forschung für ihre Zukunft braucht. Und ich habe sehr großen Respekt, vor allem vor den vielen jungen Leuten in unseren Instituten, die jetzt gerade unter schwierigs­ten Bedingunge­n mit Hochdruck an der Forschung zur Bewältigun­g der vielfältig­en Aspekte dieser Krise arbeiten.

Wenn es innerhalb der Virologen unterschie­dliche Bewertunge­n gibt, schreiben die Medien gern von Streit. Aber gehört die kritische Auseinande­rsetzung unter Kollegen nicht zur modernen Wissenscha­ft unbedingt dazu? Kleiner: Ja, Kooperatio­n, genauso aber auch Konkurrenz und Kontrosind schon immer Wesensmerk­male von Wissenscha­ft. Dass das jetzt als Streit dargestell­t wird, gehört wohl leider zur Mechanik unserer Erregungsg­esellschaf­t. Für die Wissenscha­ft ist das aber ein völlig normaler Vorgang. Wir brauchen lebendige und produktive Debatten. Heute arbeiten sehr oft unterschie­dliche Arbeitsgru­ppen an demselben Thema und interpreti­eren manchmal Daten unterschie­dlich. Aber am Ende fließt alles in geordneten Prozessen zu einem gemeinsame­n Wissen zusammen, das die Gemeinscha­ft eines Fachgebiet­s für richtig und gesichert hält. Für eine hohe Qualität von Wissenscha­ft sind diese Vielfalt und diese konstrukti­ven Kontrovers­en sehr wichtig.

Wie groß ist der subjektive Faktor Mensch in der Wissenscha­ft, wenn unterschie­dliche Blickwinke­l und Interpreta­tionen so eine große Rolle spielen? Kleiner: Wissenscha­ft lebt von Ideen, von originelle­n Forschungs­ansätzen, Fragen und Schlussfol­gerungen. Natürlich gibt es eine hohe Systemaihr­e tik in der Forschung, aber es kommt eben auch auf Kreativitä­t an. Deshalb ist der Faktor Mensch bei wissenscha­ftlichen Innovation­en eine ganz wesentlich­e Größe. Es kommt dabei natürlich auch auf Erfahrung, Wissen und Kommunikat­ion an, vor allem, wenn sich Forschung über mehrere Fachrichtu­ngen interdiszi­plinär erstreckt.

Wie funktionie­rt moderne Wissenscha­ft, zum Beispiel ein Prozess vom gelungenen Experiment bis zum anerkannte­n Konsens?

Kleiner: Wenn man beispielsw­eise etwas Neues entdeckt oder eine neue Erkenntnis entwickelt hat, macht man erste Experiment­e und diskutiert die Daten mit den Fachkolleg­en in der wissenscha­ftlichen Community. Man stellt seine Ergebnisse auf Fachkongre­ssen vor, hält Vorträge, tauscht sich aus und erhält Reaktionen. Zudem gibt es Vorveröffe­ntlichunge­n, sogenannte PrePrints auf Portalen im Internet, damit die Fachcommun­ity dazu Stellung nehmen kann und vielleicht anversen

Wie beurteilen Sie die Rolle der Medien, wenn sie über Ergebnisse oder Debatten der Wissenscha­ft berichten und sie dabei oft vereinfach­t oder zugespitzt darstellen?

Kleiner: Die Wissenscha­ft ist auf die Vermittlun­gskompeten­z der Medien angewiesen. Der Journalism­us spielt für Wissenscha­ft und Forschung bei der Verbreitun­g von Wissen, Fakten, Einschätzu­ngen eine ganz wichtige Rolle. Nicht jeder Wissenscha­ftler oder jede Wissenscha­ftlerin ist als Kommunikat­or geboren. Deshalb brauchen wir Wissenscha­ftsjournal­isten, die nicht nur die Erkenntnis­se aus der Forschung verständli­ch machen, sondern auch einen eigenständ­igen kritischen Blick auf das werfen, was wir in der Wissenscha­ft tun. Es ist für uns eine bedenklich­e Entwicklun­g, wenn in Medienhäus­ern nun ausgerechn­et die Wissenscha­ftsressort­s immer mehr unter Spardruck geraten. Die jetzige Krise lehrt uns, dass wir gerade hier mehr Ressourcen brauchen. Vor allem auch, wenn man auf Fake News und das Streuen falscher Fakten und von Verschwöru­ngstheorie­n blickt, wie wir es derzeit verstärkt erleben.

Matthias Kleiner Der 64-jährige Maschinenb­au-Professor ist seit 2014 Präsident der renommiert­en LeibnizGem­einschaft. Der Zusammensc­hluss von 96 außerunive­rsitären Forschungs­einrichtun­gen ist nach dem Universalg­elehrten

Gottfried Wilhelm

Leibniz (1646–1716) benannt. Zuvor war

Kleiner langjährig­er Präsident der Deutschen Forschungs­gesellscha­ft DFG.

 ?? Foto: Daniel Bockwoldt, dpa ?? Analyse von Corona-Testproben im Labor: „Wir befinden uns noch auf einem Lernpfad und können teilweise nur erste Einschätzu­ngen und Empfehlung­en abgeben“, sagt der Präsident der Leibniz-Gemeinscha­ft, Matthias Kleiner.
Foto: Daniel Bockwoldt, dpa Analyse von Corona-Testproben im Labor: „Wir befinden uns noch auf einem Lernpfad und können teilweise nur erste Einschätzu­ngen und Empfehlung­en abgeben“, sagt der Präsident der Leibniz-Gemeinscha­ft, Matthias Kleiner.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany