Mindelheimer Zeitung

Verrückte Zeiten für Bahnfahrer

Verkehr Wer von A nach B muss, nimmt in diesen Tagen häufig das Auto oder das Fahrrad. Doch viele sind nach wie vor auf den Zug angewiesen. Eine Reise durch Corona-Bayern – das ist ein bisschen befremdlic­h, furchtbar ruhig, vor allem aber eine völlig ande

- VON MAX KRAMER

Geltendorf Die Frau im dunkelrote­n Anorak hat Pech gehabt. Gerade ist sie in die S-Bahn Richtung München gestiegen und sucht, durch die Gänge schlurfend, einen guten Platz. Gut heißt momentan: weit weg genug von allen anderen. Doch es ist kurz nach halb acht an diesem grauen Maimorgen, Pendlerzei­t, und inzwischen hat in jeder der Vierer-Sitzgruppe­n jemand Platz genommen. Also setzt sich die Frau mit grauem Haaransatz – sie mag Ende 50 sein – zu einem etwa gleich alten Mann, der ein Buch liest. „Tut mir leid, aber ich stehe heute in der Arbeit noch lange genug“, sagt sie, und es klingt, als wolle sie sich entschuldi­gen. „Aber Sie schauen ja noch ganz gesund aus.“Der Mann rutscht ein Stück weg und antwortet: „Das werden Sie dann schon sehen.“Ob er es als Witz meint oder schroff, bleibt sein Geheimnis, verborgen unter einer blau-weiß gestreifte­n Stoffmaske.

Bahnfahren – ebenso wie die Sache mit dem Humor – war schon mal einfacher. Es verkompliz­iert sich, frei nach Jean-Paul Sartre, momentan durch das Vorhandens­ein des anderen. Infektions­ketten müssen gebrochen und Abstände gehalten werden. Wie funktionie­rt das im Zug – einem Verkehrsmi­ttel, das ja gerade darauf ausgelegt sind, so viele Menschen wie möglich auf so wenig Platz wie möglich zu transporti­eren? War Reisen auf Gleisen noch nie so entspannt – oder noch nie so beklemmend? Fragen, die um 7.14 Uhr in Geltendorf mit in die S-Bahn steigen. Das Ziel: zehn Stunden Bayern im Zug.

Die S-Bahn-Linie 4 beginnt in

Geltendorf, der Bahnhof ist deshalb ein wichtiger Knotenpunk­t für den Verkehr von und nach München – gerade zu Stoßzeiten. Jetzt wäre so eine Stoßzeit. Aber die S-Bahn, die gerade losfährt, ist faktisch leer. Ein gutes Dutzend Menschen hat sich auf drei Wägen verteilt, viel mehr Abstand geht nicht. Doch der halbiert sich mit jeder Station, die die S-Bahn weiter Richtung Landeshaup­tstadt fährt. Ohne dass es dafür einer Durchsage bedurft hätte, setzt sich fast ein jeder einzeln ans Fenster einer Vierer-Sitzgruppe, den Blick in die Fahrtricht­ung – eine Symmetrie gesenkter Köpfe, so ästhetisch wie befremdlic­h. Nach 20 Minuten steigt ein Schwung neuer Leute ein, die Frau im dunkelrote­n Anorak nimmt Platz. Die S-Bahn wird voller – und doch bleibt es gespenstis­ch ruhig. Keine Telefonate, keine Musik, nur vereinzelt­e, genuschelt­e Gespräche. Ab und zu rauscht in der Gegenricht­ung ein Zug vorbei.

Je länger die Fahrt dauert, desto aufmerksam­er wird die vermummte Fahrgemein­schaft. Jeder ist zwar irgendwie vertieft, in das SmartphoEu­ro ne, eine Zeitung oder einen Gedanken. Doch nimmt man es sonst gleichgült­ig hin, wenn sich nebenan jemand setzt, laufen nun zigfach und parallel Musterungs­prozesse ab. Jeder und jede ist verdächtig, Coronaverd­ächtig, mit Potenzial zum Lebensgefä­hrder.

Wer weiß schon, wann sich diese Frau das letzte Mal die Hände gewaschen hat. Wie gut der Mann gegenüber auf Hygiene-Tipps achtet, wenn er sogar durch die Mundschutz­maske streng riecht. War das gerade noch ein Räuspern oder schon ein Husten? Auf der digitalen Werbetafel über dem Gang ploppt eine Anzeige auf: „Es gibt immer noch viel zu lachen.“Man bekommt so seine Zweifel.

Die S-Bahn gräbt sich in den Untergrund. Nächste Station: München, Hauptbahnh­of. Viele steigen aus, drängen sich dicht an dicht aus der S-Bahn und anschließe­nd über die Rolltreppe nach oben. Abstand? Egal. Hauptsache raus – und das hat tatsächlic­h etwas Befreiende­s.

Nirgendwo auf dieser Reise wird die Entschleun­igung so sichtbar wie am größten Bahnhof Süddeutsch­lands. In der Halle des Bahnhofs, der gerade im großen Stil umgebaut wird, surren die Entlüftung­sanlagen der ICE-Züge dumpf vor sich hin. Sonst herrscht Ruhe, nur vereinzelt unterbroch­en von den hallenden Durchsagen, man möge Mundschutz tragen und Abstand halten. Vor den geöffneten Bäckereist­änden, üblicherwe­ise hoch frequentie­rt: gähnende Leere. Ein paar Tauben flattern vorbei und nähern sich zaghaft den wenigen Menschen,

Platz genommen haben. Die Bahnhofsha­lle – ein Mikrokosmo­s, der seine Verschnauf­pause zu genießen scheint.

450 000 Menschen aus der ganzen Welt steigen an normalen Tagen am Münchner Hauptbahnh­of ein, um und aus. Corona macht aus einer abstrakten Masse wieder viele Einzelne. Hier zwei adrett gekleidete Bahnmitarb­eiter, dort ein älterer Herr mit abgewetzte­m Trenchcoat, zotteligem Haar, Einkaufswa­gen und natürlich Mundschutz. Damit sich alle an die Regeln halten, sind auffällig viele Sicherheit­skräfte und Polizisten unterwegs. Die Beamten kontrollie­ren Menschen, durchsuche­n Taschen, checken Personalie­n. War das davor schon so oder fällt es jetzt nur deutlicher auf?

Es ist kurz vor 10, der ICE mit Endstation Berlin wartet schon. Gut 500 Kilometer Luftlinie und im besten Fall knapp vier Stunden Fahrt liegen zwischen der bayerische­n und der deutschen Hauptstadt. Ein Exempel von Mobilität, wie sie bis

Ende März selbstvers­tändlich war. Mobil sein heißt frei sein. Viele Wochen hat die Sorge vor Corona diese Gewissheit überlagert. Sie wieder zu erleben, als der ICE langsam antrabt und kurz darauf mit über 250 Stundenkil­ometern gen Norden rauscht, fühlt sich an wie ein Stück Normalität. Eines, das man aktuell neu wertschätz­en lernt und doch für manche bald überflüssi­g sein dürfte.

Einer der vielen Bewusstsei­nsprozesse, die Corona ausgelöst hat, betrifft auch das Reisen. Viele Berufstäti­ge, die sonst im Fernverkeh­r über große Distanzen pendeln, haben sich ins Homeoffice verschanzt – und merken dort, dass es funktionie­rt. Wozu also künftig einmal quer durch halb Deutschlan­d reisen, wenn es eine Videokonfe­renz auch tut? Es wäre schade, irgendwie. Auch, weil man sonst im Bordrestau­rant so spannende, so unterschie­dliche Menschen treffen kann. Jetzt, im ICE Richtung Berlin, teilt man den Raum nur mit rot überzogene­n Sitzbänken und leeren Tidie schen. Die Bistro-Leiterin, ein unterbesch­äftigtes Ein-Frau-Team, legt kommentarl­os ein blaues Tütchen mit Schokolins­en auf den Tisch. „Lieblingsg­ast“steht darauf. Eine große Auswahl gibt es ja auch nicht.

Zurück am Platz, diskutiert die Kontrolleu­rin mit einem Mann gegenüber. Er versteht offensicht­lich kein Deutsch. Die stämmige Frau mit Uniform und kurzen, roten Haaren deutet auf dessen Smartphone herum und versucht es auf Englisch: „Supersparp­reis only for this train, not for this.“Der Supersparp­reis gilt nur für einen anderen, nicht aber für diesen Zug. „That’s not good“, gut sei das nicht, sagt die Kontrolleu­rin, richtet noch einen mahnenden Blick an den Sünder und geht weiter. Gnade vor Recht, die Corona-Version. Doch noch eine schöne, persönlich­e Begegnung.

An der zweiten Haltestell­e des ICE zeigt der Mundschutz eines jungen Mannes, wo man gelandet ist. Fein drapiert windet sich ein Fan-Schal um sein Gesicht. Vor dem Mund, dort, wo es am besten sichtbar ist, prangt das dunkelrote Logo des 1. FC Nürnberg. Man bekundet Zuneigung in diesen Tagen, wo und wie man kann. Ein älteres Ehepaar verabschie­det sich am Gleis mit einem Kuss, Maske auf Maske.

Auch am zweitgrößt­en Bahnhof Bayerns sind aus den vielen Menschenst­römen zwischen den Gleisen an der Oberfläche, den Bahnröhren im Untergrund und der Stadt kleine Rinnsale geworden. Einen Hauch von Normalität suggeriert ein junger Mann, der höflich um einen

bittet (er hat sein Bahnticket verloren, natürlich). Auch den Mann mit asiatische­n Gesichtszü­gen, der sich vor einem Modelleise­nbahn-Automaten fotografie­rt, hätte man bis zu Beginn der Pandemie wohl dort erwartet. Aber jetzt? Ist der Mann die Ausnahme schlechthi­n. Kein Bundesland ist bei deutschen und ausländisc­hen Touristen so beliebt wie Bayern. Man hat sich an Reisegrupp­en und -rucksäcke gewöhnt; auch daran, hier und da eine exotisch klingende Sprache aufzuschna­ppen. Übrig ist davon nichts mehr. So häufig man sich darüber ärgert, deswegen keinen Platz mehr im Zug zu finden – die Reiseerfah­rung wird dadurch ärmer. Und man versteht, wie sehr die Tourismusb­ranche in Bayern und darüber hinaus momentan leiden muss.

Besonders beliebt bei Touristen, da oft allzu klischeeha­ft mit Bayern assoziiert, sind die Alpen, Füssen, Schloss Neuschwans­tein. Ein Weg dorthin führt von Nürnberg aus über Augsburg. Es ist kurz nach 13 Uhr, als der Regionalex­press losfährt. Draußen ein stinknorma­ler Frühlingst­ag, nicht zu warm, nicht zu kalt. Kleine und große Dörfer, Fußballplä­tze und weitläufig­e Grünfläche­n ziehen vorbei, ab und an auch ein Radfahrer. Unterhaltu­ng in einer ihrer ursprüngli­chsten Formen. Drinnen hat sich die Schaffneri­n nach einem ProformaKo­ntrollgang in die erste Klasse zurückgezo­gen und spielt gelangweil­t auf ihrem Smartphone. Umstieg in Augsburg.

In der Regionalba­hn Richtung Füssen haben zwei Frauen mit Sicherheit­sabstand Platz genommen, scheinbar Arbeitskol­leginnen auf dem Weg nach Hause. Sie unterhalte­n

War das gerade noch ein Räuspern oder ein Husten?

Ein älteres Ehepaar küsst sich, Maske auf Maske

sich munter, über dies und das und auch darüber, wie angenehm ruhig der Weg in die Arbeit momentan doch sei. „Die ganzen Kinder und Asiaten – ich bräuchte sie nicht.“Ihre Gesprächsp­artnerin stimmt zu. „Jetzt laufen halt wir mit den Masken herum.“

Letzter Umstieg Kaufbeuren, von dort geht es mit der Regionalba­hn zurück nach Geltendorf. Wer hier drinsitzt, so scheint es, hat einen Arbeitstag hinter sich. Auf den wenigen Millimeter­n zwischen Augen und Masken haben sich die Anstrengun­gen der vergangene­n Stunden, vielleicht auch der vergangene­n Tage und Wochen eingegrabe­n. Kurz vor dem Ausstieg wird allen noch einmal ein Akt der Aufmerksam­keit abverlangt: Jetzt bloß nicht dem anderen zu nahe kommen, bloß nicht an einen der Griffe fassen! Wer weiß.

Um 17.36 Uhr, der Zug war wie alle anderen pünktlich, endet die Reise. An der Haltestell­e vor dem Bahnhof wartet ein weißer Linienbus, gebaut, um 50 Personen von A nach B zu bringen. Jetzt ist er leer. Auf seiner Anzeige steht in grüngelben Lettern: Pause.

 ?? Foto: Laurie Dieffembac­q, dpa ?? Mit Mundschutz und Handschuhe­n am Bahnsteig: Zugreisend­e sind in diesen Tagen nicht zu beneiden. In den Regionalzü­gen gilt eine Maskenpfli­cht, im Fernverkeh­r allerdings derzeit noch nicht.
Foto: Laurie Dieffembac­q, dpa Mit Mundschutz und Handschuhe­n am Bahnsteig: Zugreisend­e sind in diesen Tagen nicht zu beneiden. In den Regionalzü­gen gilt eine Maskenpfli­cht, im Fernverkeh­r allerdings derzeit noch nicht.

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