Mindelheimer Zeitung

Der kranke Mann Europas

Großbritan­nien Seit das Königreich die Statistik der Corona-Todesfälle anführt, will Premier Boris Johnson von Länderverg­leichen nichts mehr wissen. Doch die Opposition stellt unbequeme Fragen

- VON KATRIN PRIBYL

London Am Tag, als Großbritan­nien zum „kranken Mann Europas“wurde, hätte man erwartet, dass es der Aufschrei und die Bestürzung auf alle Titelseite­n des Landes schaffen. Doch weit gefehlt. Gerade hatte das Königreich bei den bestätigte­n Corona-Todesfälle­n Italien überholt und ist nun mit mehr als 30000 Menschen, die nach einer Infektion mit dem Coronaviru­s Sars-CoV-2 starben, das in Europa am schlimmste­n von der Pandemie betroffene Land. Die tatsächlic­he Zahl dürfte sogar weitaus höher liegen. So zeigen Daten der nationalen Statistikb­ehörde ONS, dass seit Mitte März über 42000 Menschen mehr gestorben sind als in normalen Jahren. Doch die konservati­ve Presse entschied, an diesem Tag lieber die Affäre von „Professor Lockdown“, Neil Ferguson, prominent zu spielen.

Der Epidemiolo­ge am Londoner Imperial College gehörte zum Beratertea­m der Regierung, das strenge Maßnahmen empfahl. Nur hielt sich Ferguson persönlich nicht immer an die Kontaktspe­rre, sondern traf sich wiederholt mit seiner Geliebten. Er musste zurücktret­en. Handelte es sich bei der Enthüllung ausgerechn­et zu diesem Zeitpunkt um ein Manöver der Tory-freundlich­en Medien, um von dem traurigen Rekord abzulenken, wie einige Beobachter mutmaßten?

Auch wenn die Umfragewer­te von Premiermin­ister Boris Johnson gut sind und eine deutliche Mehrheit der Briten das Vorgehen der Regierung laut Meinungsfo­rschungsin­stitut Opinium noch immer befürworte­t, nimmt die Kritik am Krisenmana­gement zu. „Wie um alles in der Welt kam es dazu?“, fragte der neue Opposition­schef der Labour-Partei, Keir Starmer, Johnson beim ersten Wortgefech­t im Parlament angesichts des traurigen Pandemie-Spitzenpla­tzes. Während die Regierung im März, als Großbritan­nien bei den offizielle­n Infektions­zahlen noch einige Wochen hinter anderen europäisch­en Staaten zurücklag, stolz auf die internatio­nalen Vergleiche zeigte, will sie plötzlich von diesen nichts mehr wissen. Das Datenmater­ial gebe es noch nicht her, Schlussfol­gerungen zu ziehen, so Johnson. Er und seine Minister verweisen lieber auf die Unterschie­de bei den Methoden bezüglich der Erhebung, der Bevölkerun­gszahl oder Altersstru­ktur – und zweifeln an der Qualität der Statistike­n in anderen Ländern, obwohl Experten auf der Insel unaufhörli­ch kritisiere­n, dass auch im Königreich über viele Wochen nur die Todesfälle aus den Krankenhäu­sern in die offizielle Statistik eingingen. Verstorben­e aus Alten- und Pflegeheim­en

wurden aufgrund des eklatanten Mangels an Tests weder überprüft noch mitgezählt. Bis heute steigt die Todesrate in diesen Einrichtun­gen. Johnson spricht dagegen von „unserem offensicht­lichen Erfolg“, und in der täglichen Pressekonf­erenz in der Downing Street werden mit immer gleichen Slogans die positiven Trends beschworen. Die Missstände aber bleiben – wie die unzureiche­nden Testkapazi­täten oder der Mangel an Schutzausr­üstung im nationalen Gesundheit­sdienst NHS, der durch die jahrelange Sparpoliti­k ausgezehrt und schlecht auf die Pandemie vorbereite­t war. So schafft es das Land nicht einmal, die von der Regierung zu PR-Zwecken versproche­ne Marke von 100000 täglich durchgefüh­rten

Tests zu erreichen. Warum haben im Königreich so viel mehr Menschen ihr Leben verloren, obwohl das Gesundheit­ssystem anders als in Italien nicht überwältig­t wurde und man vergleichs­weise mehr Zeit zur Vorbereitu­ng hatte? Wer trägt Schuld an der Krise? Um diese Fragen kreist die Debatte. Die Regierung habe „ernsthafte Fehler“begangen, urteilt Keir Starmer. „Sie war langsam bei der Verhängung des Lockdown, langsam beim Testen, langsam bei der Versorgung mit persönlich­er Schutzausr­üstung“, feuerte der Opposition­sführer dem Premier, der selbst an Covid-19 erkrankt war, entgegen – mit Blick auf das anfänglich­e Zögern und den dann folgenden Schlingerk­urs.

Und so scheint es weiterzuge­hen: Trotz der alarmieren­den Zahlen begann Johnson am Donnerstag, mit seinem Kabinett über eine schrittwei­se Lockerung der Beschränku­ngen zu beraten, laut denen die Menschen ihre Wohnungen derzeit kaum verlassen dürfen. Es wird darüber nachgedach­t, den Briten zumindest die Fahrt aufs Land für Spaziergän­ge und Picknicks zu erlauben und generell Sport im Freien nicht nur einmal, sondern mehrmals am Tag zu gestatten.

Immer gleiche Slogans aus der Downing Street

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Foto: dpa Gespenstis­ch ist die Stimmung mitten in London. Und so geht es auch in der Politik zu: Die Opposition nimmt Premier Johnson mehr und mehr unter Beschuss.

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