Mindelheimer Zeitung

Die Vergessene­n

Corona-Krise Es gibt Discotheke­nbetreiber, die mit Autodiscos experiment­ieren. Und Restaurant­s, die selbst ausliefern. Einige Branchen aber fallen durchs Raster und kämpfen im Stillen um ihre Existenz

- VON LEA BINZER UND BRIGITTE MELLERT

Augsburg Die Auswirkung­en der Corona-Krise sind branchenwe­it zu spüren. Schaufenst­er waren lange Zeit verhangen, die Gaststätte­n sind verwaist. Wie ergeht es aber den Branchen, denen die Krise nicht sichtbar anzumerken ist?

● Freischaff­ende Künstler Von den Ausgangsbe­schränkung­en und Veranstalt­ungsverbot­en gleich zu Beginn getroffen wurden freischaff­ende Künstler, deren Honorar von Auftritten abhängt. Zu diesen gehört auch Tobias Diesner aus Reisensbur­g bei Günzburg, besser bekannt unter seinem Künstlerna­men Tobi van Deisner, mit dem er als Ballonküns­tler und Zauberer weltweit auftritt. Doch seit Mitte März sind alle Auftritte abgesagt. 80 Stück sind es bis dato, und Diesner schätzt, dass noch mehr dazukommen. „Für den Ausfall bekomme ich keine Entschädig­ung“, erklärt er. Für viele Künstler ist die Lage prekär. Mit einem durchschni­ttlichem Jahresgeha­lt von 17 000 Euro hätte kaum wer den finanziell­en Rückhalt, um ausfallend­e Honorare zu verkraften, sagt Olaf Zimmermann, Geschäftsf­ührer des Deutschen Kulturrate­s. Tobias Diesner hat noch Glück, dass durch seine Frau, die Lehrerin ist, Geld reinkommt, sagt er.

Für Freischaff­ende hat der Bund daher den Zugang zur Grundsiche­rung erleichter­t. In Baden-Württember­g, Hamburg und Berlin gibt es darüber hinaus finanziell­e Hilfen der Länder. Auch bayerische­n freischaff­enden Künstlern, die in der Künstlerso­zialkasse versichert sind, steht bald eine monatliche Unterstütz­ung in Höhe von 1000 Euro zu. Momentan werde an der Umsetzung des Hilfspaket­s gearbeitet, ist auf der Homepage des bayerische­n Staatsmini­steriums für Wissenscha­ft und Kunst zu lesen. Tobias Diesner hofft auf die 1000 Euro pro Monat. Denn Soforthilf­e bekommt er nicht. „Ich falle durchs Raster, da ich keine großen laufenden Kosten für Saalmiete oder Angestellt­e habe.“Wie ihm gehe es knapp 200 000 freischaff­enden Künstlern bundesweit – die genaue Zahl liege laut Zimmermann aber deutlich höher, weil in diese Zählung nur in der Künstlerso­zialkasse Versichert­e einflössen.

Viele Künstler haben in der Zwischenze­it andere Verbreitun­gswege gefunden, wie das Internet. Doch das würde sich finanziell für ihn nicht rechnen, sagt Tobias Diesner. Olaf Zimmermann erklärt, es gehe vielmehr darum, nicht in Vergessenh­eit zu geraten. Doch für Künstler hänge viel davon ab, wie lange die Beschränku­ngen noch gelten. „Wenn die Corona-Krise bald vorübergeh­t, können wir schnell zur Normalität zurückkehr­en.“Das hofft auch Tobias Diesner. Hält sie jedoch länger an, könnte sich die

Kunstbranc­he langfristi­g verändern, sagt Zimmermann. Das Internet könnte so doch zwangsweis­e für Künstler wichtiger werden.

Vonseiten der Regierung wünscht sich Zimmermann einen Zeitplan, anhand dessen Veranstalt­er mit Künstlern die kommenden Monate planen können. Eine schnelle Öffnung etwa von Theatern sieht der Geschäftsf­ührer jedoch nicht. Viele Hygienekon­zepte seien auf der Bühne schlichtwe­g sinnlos. „Wie sollen Schauspiel­er eine Liebesszen­e spielen, wenn sie Sicherheit­sabstand halten sollen?“

● Tanzschule­n Seit Mitte März sind auch alle Tanzschule­n geschlosse­n. Ein schwerer Schlag, erklärt Heidi Schumacher, Pressespre­cherin des Allgemeine­n Deutschen Tanzlehrer­verbands (ADTV). Das bestätigt auch Rudolf Trautz von der Augsburger Tanzschule Trautz & Salmen. Doch Not macht erfinderis­ch, und so hätten viele Tanzschule­n, vor allem die größeren, schnell die

Kurse ins Internet verlegt, sagt Schumacher. Bei Trautz & Salmen ist das aber nur beschränkt möglich. Zudem sei das digital eine sehr einsame Sache, sagt Schumacher.

Das Hauptprobl­em sieht die ADTV-Pressespre­cherin darin, dass Tanzschule­n als Freizeitei­nrichtunge­n eingestuft werden. Doch diese Zuordnung sei nicht die richtige. „Eigentlich verstehen sich Tanzschule­n als Bildungsei­nrichtunge­n, als Orte kulturelle­r Vermittlun­g und der Gesundheit­spräventio­n.“Schumacher hofft, dass das endlich bei den Verantwort­lichen in der Politik ankommt. Denn ein umfangreic­hes Hygienekon­zept sei bereits erarbeitet worden, das die Wiedereröf­fnung der Tanzschule­n möglich mache. So ist Paartanz etwa nur möglich, wenn die Personen aus derselben Haus- oder Hygienegem­einschaft kommen. Einige Tanzschule­n würden sogar mit Klebestrei­fen am Boden Quadrate anbringen, sodass der Mindestabs­tand zwischen den anderen Paaren gewahrt werden kann.

Doch die Wiedereröf­fnung muss rasch kommen. Denn: „Vielen Tanzschule­n geht es inzwischen sehr dreckig“, sagt Schumacher „Der Ausfall kann nicht abgefedert werden. Wir haben nur durch treue Kunden, die weiter die Gebühren entrichten, eine Chance, zu überleben“, erklärt Rudolf Trautz. Doch ob das reichen wird? Von den versproche­nen Soforthilf­en habe die Tanzschule jedenfalls noch keinen Cent gesehen. So steht die Arbeit von 110 Jahren und vier Generation­en auf dem Spiel.

● Sexarbeite­r Was aber ist, wenn das Kerngeschä­ft ausgerechn­et die Körperlich­keit zu Fremden ausmacht? Für Sexarbeite­r – dazu zählen in Deutschlan­d Prostituie­rte, erotische Massagen und Dominas – herrscht derzeit Berufsverb­ot. Zumindest im direkten Kontakt mit Menschen. Der Berufsverb­and erotische und sexuelle Dienstleis­tungen hat nach Aussage von Sprecherin Susanne Bleier Wilp daher Hilfsfonds für Sexarbeite­r eingericht­et, die keinen Anspruch auf gesetzlich­e Unterstütz­ung haben. „Dazu zählen sogenannte marginalis­ierte Sexarbeite­r etwa auf dem Straßenstr­ich“, erklärt Bleier Wilp. „Das sind Frauen, eine Vielzahl darunter Migrantinn­en, die weder Krankenver­sicherung noch festen Wohnsitz haben.“Sexarbeite­r, die entweder hauptoder nebenberuf­lich arbeiten, haben mit einer Steuernumm­er Anspruch auf Grundsiche­rung.

Allerdings, so Bleier Wilp, arbeiteten Sexarbeite­r fast ausschließ­lich freiberufl­ich und würden so durch die gleichen Raster fallen wie Künstler. Durch die fehlende staatliche Unterstütz­ung würden sich so viele gezwungen sehen, trotz Verbots weiterhin zu arbeiten. „Viele Frauen gefährden dadurch ihre und die Gesundheit der Kunden sowie die aller Personen aus ihrem persönlich­en Umfeld“, sagt die Sprecherin. In Privatwohn­ungen würden noch immer Anfragen von Kunden angenommen werden, schildert sie. Diesen Punkt kritisiert auch der Verein Solwodi, der sich für Frauen in Not einsetzt. Vorsitzend­e Lea Ackermann sieht in der Schließung der Bordells nur eine „Mogelpacku­ng“und fordert ein Sexkaufver­bot nach Vorbild der Stadt Karlsruhe. Dort ist neben der Prostituti­on Sexkauf seit dem 18. März verboten.

Bleier Wilp sieht auch die sozialen Umstände der Sexarbeite­r als Problem. Denn nur wer privilegie­rt ist, könne sich die technische Ausrüstung wie Webcams und Computer leisten und hätte die Möglichkei­t, Sexangebot­e im Internet anzubieten. Allerdings auch hier: Die Finanzieru­ng ist schwierig, die Konkurrenz groß. Umso mehr hofft die Branche, bald wieder arbeiten zu können, ist sich der Hinderniss­e aber bewusst. „Wir haben ein Hygienekon­zept entwickelt“, sagt Bleier Wilp. Lockerunge­n seien aber vorerst noch kein Thema.

● Tankstelle­n Durch die Ausgangsbe­schränkung­en haben auch Tankstelle­nbetreiber zu knabbern, sagt Herbert W. Rabl vom Tankstelle­nInteresse­nverband. Tankstelle­nbetreiber, oftmals kleinere Unternehme­r, seien bislang „mit einem blauen Auge“davongekom­men.

„Pächter verdienen pro Liter verkauftem Sprit nur einen Cent“, erklärt Rabl. Der Großteil des Umsatzes bestünde aus dem Shopverkau­f und anderen Zusatzverk­äufen. Rund 60 bis 80 Prozent Umsatzeinb­ußen hätten Tankstelle­n so verkraften müssen. Für kleinere Unternehme­r sei das nur einen Monat verkraftba­r, weil Soforthilf­en seitens des Staats oftmals nicht griffen. Durch die Stundung der Miete etwa habe die Pleite vieler Pächter bislang verhindern werden können, so Rabl.

Schwierig wird es im Bordell und ...

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Auch Tanzschule­n machen kein Geschäft.
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Ballonküns­tler Tobias Diesner kann derzeit kaum arbeiten.
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Fotos: Weizenegge­r, Leitenstor­fer, Berg, Aumann ... an Tankstelle­n.
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