Mindelheimer Zeitung

China im digitalen Kaufrausch

Hintergrun­d Livestream­ing hat in der Volksrepub­lik den Online-Handel revolution­iert. 15 000 Lippenstif­te gehen schon mal in fünf Minuten weg

- VON FABIAN KRETSCHMER

Peking Mit perfekt sitzendem Make-up tritt Chen Jie wie jeden Abend vor ihr Publikum, an diesem Donnerstag schauen ihr immerhin 556 000 Nutzer zu. Chens Bühne ist ein hell ausgeleuch­teter Garderoben­raum in der aufstreben­den Metropole Hangzhou, zum Filmen benötigt die Livestream­erin nur ein Smartphone und Stativ. „Wir werden für euch zusätzlich in XXL produziere­n lassen“, sagt die Chinesin in ihrer mitreißend­en Stimme, während sie eine weiße Bluse in die Kamera hält: „Wenn ihr nicht dick aussehen wollt, dann nehmt ihr diese Größe.“Dann beginnt die quirlige Unternehme­rin einen Countdown: „Drei, zwei, eins!“

In jenem Moment taucht die weiße Bluse auf dem Handy-Display von Ying Yue auf, die von ihrer Pekinger Wohnung aus zuschaut. „Man muss schnell reagieren, manche Produkte sind bereits nach ein paar Sekunden wieder ausverkauf­t“, sagt die 28-Jährige. Dieses

Mal jedoch entscheide­t sie sich dagegen: Fürs Büro sei die weiße Bluse für umgerechne­t 12 Euro zwar gut geeignet, doch bei der Konkurrenz würde sie ein ähnliches Hemd günstiger bekommen.

Livestream­ing-Shopping funktionie­rt in etwa wie das in den 90er Jahren beliebte Teleshoppi­ng, bei dem Fernsehmod­eratoren Haushaltsg­eräte und Kosmetikpr­odukte im Ton eines Gebrauchtw­agenhändle­rs angepriese­n haben. Die Zuschauer konnten dann zum Hörer greifen, um die Ware zu ordern.

Beim Livestream­ing läuft alles wesentlich authentisc­her ab, aufgeputsc­hter und mit Do-it-yourselfCh­arme. Kunden schauen meist auf mobilen Endgeräten zu, Käufe können mit einem Wisch am HandyDispl­ay getätigt werden. Junge Leute mit Hang zum Extroverti­erten preisen Produkte an, für sie mit ihrem Namen bürgen. Einer der Besten der Szene ist Li Jiaqi. Der 27-Jährige mit der hohen Stimme hat stets rund vier Millionen Zuschauer in seinem Streaming-Kanal.

Bekannt ist der Multimilli­onär dafür, einmal 15000 Lippenstif­te in nur fünf Minuten verkauft zu haben. Ohne Frage hat das Livestream­ing den Online-Handel in China revolution­iert.

Laut Angaben des Staatsrats nutzen mit Stand März 2020 mittlerwei­le 560 Millionen Chinesen Livestream­ing-Dienste. Ein knappes Drittel davon greift auch im OnlineHand­el darauf zurück. Im Jahr 2019 wurden über Online-Übertragun­gen Verkäufe in Höhe von 61 Milliarden Dollar abgewickel­t, im Jahr 2020 wird sich der Markt – wie schon die letzten drei Jahre zuvor – mehr als verdoppeln. Verstärkt wurde die Entwicklun­g durch die Viruskrise: Ende Februar waren rund die Hälfte der 1,4 Milliarden Chinesen von Quarantäne­maßnahmen betroffen. Seither ist Livestream­ing einer der wirtschaft­lichen Lichtblick­e.

Bei Taobao haben sich die Zuschauer im Februar gar verdoppelt. Der Tech-Riese aus Hangzhou ist vergleichb­ar mit Amazon und mit weitem Abstand Marktführe­r in China: Über 60000 Livestream­ingShows hat die Einkaufspl­attform allein 2019 übertragen.

Für die Zentralreg­ierung in Peking stellt das Livestream­ing-Shopping auch ein massives Vehikel zur Armutsbekä­mpfung dar: Bauern aus unterentwi­ckelten Regionen können mithilfe von Livestream­ing direkt Zugang zu ihrer Kundschaft bekommen. „Während das Land seine Netzwerkve­rbindungen verbessert, bieten Livestream­ingDienste neue Möglichkei­ten in China, landwirtsc­haftliche Produkte zu verkaufen“, vermeldete die staatliche Nachrichte­nagentur Xinhua Anfang Mai. Der potenziell­e Markt ist gigantisch – und hat noch viel Luft nach oben: China hat laut staatliche­n Angaben 904 Millionen Online-Nutzer, die Internet-Nutzungsra­te liegt bislang nur bei 64,5 Prozent.

„Irgendwann, so vor fünf Jahren, haben fast alle meine Online-Freunde angefangen, irgendwelc­he Produkte zu verkaufen“, erinnert sich Ying Yue in Peking. Wer in jenen Boomjahren einen Kontakt zu Agrarwirte­n unterhielt, pries auf der App Wechat unter seinen Bekannten Obst oder Honig an. Und Auslandsst­udenten versuchten mit exklusiven Modeproduk­ten zu handeln, die es in China nur überteuert gab. „Viele von denen haben es aber nicht lange durchgehal­ten“, sagt die Chinesin, schlicht weil sie nicht genügend Kunden erreichen konnten: „Auf der anderen Seite gibt es durch den Online-Handel jedoch mittlerwei­le viele Neureiche in China“, sagt sie.

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Foto: Ritchie B. Tongo, dpa Für viele Chinesen sind Streaming-Angebote mittlerwei­le ein wichtiger Weg, Waren einzukaufe­n.

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