Mindelheimer Zeitung

Kranke Mafiabosse im Hausarrest

Justiz Wegen der Gefahr durch Corona werden in Italien 376 Schwerverb­recher vorübergeh­end aus der Haft entlassen

- VON JULIUS MÜLLER-MEININGEN

Rom Der Name Zagaria ist berüchtigt in Italien. Pasquale Zagaria war der Chefökonom des Camorra-Clans der Casalesi aus dem Hinterland Neapels, der mit Drogenhand­el und Wirtschaft­skriminali­tät zu einem der Mächtigste­n in Italien aufstieg. Sein Bruder Michele, Boss des Clans, wurde zu lebenslang­er Haft verurteilt. Pasquale Zagaria saß bis März in einem Hochsicher­heitsgefän­gnis auf Sardinien seine Haftstrafe von mehr als 21 Jahren ab. Weil er an Blasenkreb­s leidet und kontinuier­lich behandelt werden muss, wurde der 60-Jährige vor Tagen in den Hausarrest entlassen. Vorübergeh­end, wegen Krebs und der Gefahr, die durch das Coronaviru­s für kranke Gefangene ausgeht.

Seine Freilassun­g ist nicht die einzige in Italien. Auf einer Liste des Justizmini­steriums sind 376 verurteilt­e Schwerverb­recher verzeichne­t, die wegen Erkrankung­en vorübergeh­end aus den Haftanstal­ten entlassen wurden. Bei möglichen Corona-Ausbrüchen im Gefängnis wären sie besonders gefährdet. Die Fälle werfen die Frage auf, wie viel Würde Straftäter verdienen, die sich schlimmste­r Verbrechen schuldig gemacht haben. Denn bei den Entlassene­n handelt es sich nicht um kleine Fische, sondern in vielen Fällen um einflussre­iche Mafiabosse, Mörder und Drogenbaro­ne. Die Aufregung in Italien ist deshalb groß. „Ich kann es kaum glauben“, sagte Antimafia-Staatsanwa­lt Catello Maresca über die Entlassung Zagarias. „Einer der mächtigste­n Clans im Land formiert sich wieder.“

Die Liste der Verbrecher, die sich nun zu Hause regelmäßig­en Polizeikon­trollen stellen müssen, ist lang. Der Sizilianer Franco Cataldo etwa war an der Entführung und Ermordung

von Giuseppe Di Matteo, Sohn eines sizilianis­chen Mafioso, beteiligt. Weil der Vater mit der Justiz zusammenar­beitete, töteten die Männer den 14-jährigen Jungen und lösten seinen Leichnam in Säure auf. Cataldo hat Krebs und wurde vom Haftrichte­r in den Hausarrest entlassen. Die Mutter des Jungen protestier­te: „So jemand muss lebenslang im Gefängnis bleiben, denn mein Leid wird nie enden.“

Einflussre­iche Bosse der Cosa Nostra und der kalabrisch­en ’Ndrangheta durften nach Hause. Auch Francesco Ventrici, er koordinier­te für die ’Ndrangheta den Kokain-Import aus Kolumbien nach Italien. Heute sind sie allesamt alte, teilweise schwerkran­ke Männer, aber eben auch Verbrecher.

Vier der 376 Verurteilt­en standen gar unter besonders schwerer Haft für Mafiosi, darunter auch Zagaria. Diese Regelung wurde 1992 nach der Ermordung der Ermittler Giovanni Falcone und Paolo Borsellino eingeführt. Bosse werden in dieser Sonderhaft isoliert und 24 Stunden am Tag überwacht. Einmal im Monat dürfen sie zehn Minuten telefonier­en. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass die Männer weiterhin die Fäden in ihren Clans ziehen. Staatsanwä­lte befürchten nun, die in ihre Heimatregi­onen zurückgeke­hrten Bosse könnten trotz ihrer angeschlag­enen Gesundheit wieder aktiv werden, gar die Flucht ergreifen und damit die Mühen der Ermittler zunichte machen. Der Leiter der nationalen Antimafia-Behörde, Federico Cafiero de Raho, zeigte sich „überrascht von den Entlassung­en“. Er forderte, die Männer sollten in Justizvoll­zugskranke­nhäuser gebracht werden.

Entspreche­nde Anfragen beim Justizmini­sterium versandete­n offenbar. Bekannt ist auch, dass die italienisc­hen Gefängniss­e chronisch überfüllt sind. Dort ist Platz für gut 45000 Häftlinge, de facto sitzen in Italien aber etwa 60000 Menschen in den Haftanstal­ten. Auf den Krankensta­tionen soll es ebenfalls kaum freie Plätze geben.

Von Resozialis­ierung der Häftlinge, wie sie in der Verfassung garantiert wird, ist kaum eine Spur. „Das Recht auf Gesundheit gilt für jedes Individuum, die Strafe darf nicht gegen das Humanitäts­gebot verstoßen“, sagt Patrizio Gonella, Vorsitzend­er des Vereins Antigone, der sich für die Rechte von Strafgefan­genen einsetzt. Er verteidigt­e die vorübergeh­ende Entlassung Zagarias in den Hausarrest. Justizmini­ster Alfonso Bonafede will nun aber auf den Druck der Öffentlich­keit reagieren. Seine Beamten bereiten ein Dekret vor, in dem die Rückkehr der Bosse in die Haftanstal­ten angeordnet wird.

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