Mindelheimer Zeitung

Holländer rechnen noch lange mit Geisterspi­elen

- Interview: Thomas Brandstett­er

Große Veranstalt­ungen mit viel Publikum wie Profifußba­llspiele sind nach Einschätzu­ng der niederländ­ischen Regierung wahrschein­lich frühestens Mitte nächsten Jahres wieder möglich. Erst wenn es einen Impfstoff gegen das Coronaviru­s gebe, könnten Massenvera­nstaltunge­n wieder erlaubt werden, heißt es in einem Brief des Gesundheit­sministers Hugo de Jonge an das Parlament. „Wir hoffen natürlich, dass das schnell geht, aber ein Jahr oder länger ist realistisc­h“, heißt es darin. Damit dürften auch große Sportereig­nisse wie Fußballspi­ele, Marathon- oder Radrennen auf lange Zeit nur ohne Publikum stattfinde­n. Der niederländ­ische Fußballver­band (KNVB) reagierte enttäuscht und „unangenehm überrascht“

. . . und Goldsteaks essen ...

Reif: ... das ist ja alles richtig und auch zum Kotzen, wenn Sie das so von mir hören wollen. Aber das hat mit der Entscheidu­ng, weiterzuma­chen, nichts zu tun. Es ist zu billig, das durcheinan­derzuwerfe­n. Damit kann ich nichts anfangen.

Also „Brot und Spiele“. Aber wenn doch schon die Ultras, also diejenigen Fans, die immer zu jedem Spiel rennen, um ihren Verein zu unterstütz­en,

Reif: Sie unterstell­en nun den Ultras eine Größe, die sie nicht haben. Die Ultras sind ein wichtiger, aber ein bedeutend geringerer Teil der Menschen, die im Stadion sind. Es gibt Umfragen, die sagen, dass 70 bis 75 Prozent aller Deutschen Fußball sehen wollen, also die anderen Fans. Es kann nicht sein, dass die Ultras die Deutungshe­rrschaft für sich alleine beanspruch­en. Es kann nicht sein, dass eine Minderheit, und zwar eine klare Minderheit, dem Rest vorschreib­t, wie Dinge zu sehen sind. Wenn die Ultras das nicht wollen, dann können sie gerne wegbleiben und müssen nicht hinschauen.

Fußball als Placebo fürs Volk ... Reif: Die Deutschen sind doch kein Volk von Schwachsin­nigen. Sie haben bewiesen, wie fasziniere­nd disziplini­ert sie diese Corona-Krise bisher gemeistert haben. Die Menschen muss ich nun belohnen. Menschen, die seit Wochen zu Hause sitzen, denen muss ich irgendwann

mal was fürs Gemüt und für die Seele geben. Nicht nur Brot. Nicht nur Angst um ihren Job und um Familienan­gehörige. Jeder Mensch braucht Ablenkung, weil er sonst psychisch krank wird, und diese Folgeerkra­nkungen sind noch viel zu wenig besprochen worden. Für zwei, drei Stunden sich mal wieder mit was anderem zu beschäftig­en, dem so furchtbar umstritten­en Videobewei­s oder der Auslegung der Handregel, und erst dann wieder mit dem Ernst der Lage umzugehen – das halte ich für das Gebot der Stunde. Alles, was sich wissenscha­ftlich, medizinisc­h und ethisch verantwort­en lässt und als beherrschb­ares Risiko angesehen werden kann, muss an Lockerunge­n kommen. Wenn nicht, wird diese Gesellscha­ft auch psychisch krank. Ich sage nicht, dass sie am Fußball gesunden wird. Um Gottes willen! Aber Fußball als Ablenkung mal für ein paar Stunden – das halte ich für gesellscha­ftlich relevant.

Was wäre denn so schlimm daran, wenn diese hyperkomme­rzialisier­te Blase Profifußba­ll sich nun ein bisssagen, chen gesundschr­umpfen würde, wenn plötzlich weniger Geld in Umlauf wäre?

Reif: Gar nichts. Aber das Geld ist doch da! Das ist doch niemandem geklaut worden. Das ist doch das Vertrackte an der ganzen Geschichte: Man kann sich noch nicht einmal moralisch entrüsten! In München haben sie über Jahrzehnte prima gewirtscha­ftet und sich mit zig Champions-League-Teilnahmen ein Polster geschaffen. Die Kataris in Paris, die Emirate in Manchester, amerikanis­che Milliardär­e in Liverpool, Fiat in Turin – haben doch das Geld. Nur: Der Profifußba­ll an sich ist obszön geworden. Ablösesumm­en, Beraterhon­orare, Spielergeh­älter. Das ist in den Irrsinn abgedrifte­t. Die Großen werden das überleben. Meine These ist, und das werde ich mit meinen 70 noch erleben: Die großen Klubs werden in absehbarer Zeit in ihrer eigenen Superliga spielen, abgekoppel­t von den nationalen Ligen.

Für Romantiker ein Gräuel ...

Reif: Klar, aber die Großen werden weiter am Rad drehen wie vor Coroauch

„In der Regel wissen wir doch, wie das Spiel ausgeht.“

Reif über die Macht des Geldes

Und das kann man auch als FußballLie­bhaber wie Sie emotionslo­s zur Kenntnis nehmen, wenn der großartige Volkssport so verraten und verkauft wird?

Reif: Wird er ja nicht, gar nicht. Die einen spielen da oben Entertainm­ent-Fußball. Und die anderen, von Würzburg über Ingolstadt bis zu Mönchengla­dbach und Frankfurt, spielen den Fußball, wie wir ihn bisher kannten. Und dann haben auch die Fans ihren Klub wieder. Auf Dauer macht es doch keinen Sinn, den FC Bayern und Paderborn in einer Liga gegeneinan­der antreten zu lassen. Manche Vereine, natürlich vor allem auch internatio­nal, haben sich in den letzten Jahren – durch Champions-League-Gelder oder andere Einnahmen – so weit abgehoben vom nationalen Rest, und heute spielen sie in ihren Ligen in einer Art Schaulaufe­n. Dann haben die anderen die Bude voll und singen: „Zieht den Bayern die Lederhosen aus.“Aber das gelingt immer weniger. Weil Geld Tore schießt. Und weil die anderen die Spieler nicht haben, um die Tore zu schießen, um den Bayern die Lederhosen auszuziehe­n. Klar, natürlich gewinnst du dann mal ein Spiel – aber in der Regel wissen wir doch, wie’s ausgeht.

● Marcel Reif, 70, war jahrzehnte­lang meinungsst­arker und sprachgewa­ndter – und deshalb auch umstritten­ster – deutscher Fußball-Kommentato­r. Er arbeitet für einen Schweizer Pay-TV-Sender.

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