Die Nazi-Zeit im Erdloch überlebt
75 Jahre Kriegsende In Hohenreuten hatte eine Bauernfamilie ihr Leben aufs Spiel gesetzt, weil sie einen Juden versteckt hat. Als die SS anrückte, waren die Nerven zum Zerreißen gespannt
Hohenreuten In der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem wird der Millionen jüdischer Toten gedacht, die von den Nationalsozialisten ermordet wurden. In Yad Vashem werden aber auch die Gerechten unter den Völkern geehrt, die verfolgte Juden geschützt und so deren Überleben erst ermöglicht haben. Eine solche Familie, die ihre Menschlichkeit bewahrt hat, lebte im kleinen Hohenreuten, das zu Oberrieden gehört. Eine Bauernfamilie hat dort über Monate hinweg einen Juden versteckt, der so die Zeit des Dritten Reichs überlebt hat. Die Familie brachte sich damit selbst in akute Todesgefahr.
Irmgard Sirch ist die einzige Tochter von Wilhelm Gebele und seiner Frau Albertine. Sie wird heuer im September 85 Jahre alt und ist auf dem kleinen Hof aufgewachsen. Vier Kühe standen im Stall. Weil das zum Leben zu wenig war, arbeitete ihr Vater noch als Waldarbeiter.
1944 war Irmgard Sirch neun Jahre alt. Später hat sie eine Lehre im Hotelfach durchlaufen und lange Zeit in der Gaststätte Ochsen in Mindelheim gearbeitet. In diesem Kriegsjahr 1944 wurde Hohenreuten, in dem rund 50 Menschen lebten, ans Stromnetz angeschlossen.
Davor gab es abends und nachts nur Kerzenlicht. An Weihnachten 1944 hatten die ersten Häuser in Hohenreuten Strom.
Für die Bauarbeiten wurden Gefangene eingesetzt. Irmgard Sirch erinnert sich an sechs, sieben Leute, die damals nach Hohenreuten gebracht worden waren. Unter ihnen war auch ein jüdischer Häftling. Wie er genau hieß, weiß sie nicht. Alle nannten ihn nur Charly. Er war zwischen 30 und 40 Jahren alt und stammte offenbar aus München.
Charly hat die abgelegene Gegend dazu genutzt zu fliehen. Eines Tages stand er auf dem Hof von Wilhelm Gebele und seiner Frau Albertine, beides tief gläubige Katholiken. Ihr Vater handelte sofort, erinnert sich Irmgard Sirch und versteckte den Mann. Seiner Tochter hat er immer wieder eingebläut: „Mädla, sag ja zu keinem Menschen einen Ton, sonst werden wir alle an die Mauer gestellt und erschossen.“
Tagsüber versteckten sie Charly in einem Erdloch unter freiem Himmel.
Über diesem lagen Bretter und Rasenstücke. Darauf schoben sie einen Wagen. Es sollte nur ja niemand Lunte riechen. Heute steht an dieser Stelle eine Scheune neben der Pferdekoppel. Nachts durfte der Geflohene im nicht ausgebauten Dachboden des kleinen Austragshäuschens Unterschlupf finden. Dort wurde ein Bett aufgestellt. In dem Haus wohnte damals die Oma. Das war alles schon dramatisch genug. Aber es kam noch unglaublicher. 1945, wenige Wochen vor Kriegsende, verlegten die Deutschen Panzer in die Wälder nahe bei Hohenreuten. Elf Stück hat Irmgard Sirch damals gezählt. Es war eine SS-Einheit, die sich zum letzten Gefecht rüstete. Die Bevölkerung in Hohenreuten musste damals diese Soldaten in ihren Häusern aufnehmen. Und so kam es, dass bei der Familie Gebele im Haupthaus unter dem Dach ein SS-Mann untergebracht war und nachts im Nebenhaus ein geflohener Jude. Die Nerven waren zum Zerreißen angespannt.
In Hohenreuten hat lange Zeit niemand etwas von der Geschichte mitbekommen. Sie hat sich erst nach dem Ende des Krieges herumgesprochen. Monate waren ins Land gegangen, der Krieg überstanden, da fuhr eines Tages ein Auto auf die Hofeinfahrt. Es war Charly. Er hatte für die Familie ein nagelneues Radio dabei und Stoffballen zum Kleidernähen. Er hat sich überschwänglich dafür bedankt, dass Albertine und Wilhelm Gebele ihm das Leben gerettet haben. Kurz danach sei er nach Israel geflogen, wohin er ausgewandert ist, weiß Irmgard Sirch. Einen weiteren Kontakt hat es nicht mehr gegeben. Was aus ihm geworden ist, auch das weiß die rüstige Dame nicht. Eines ist ihr aber ein großes Anliegen: Diese Geschichte sollte nicht vergessen werden.