Mindelheimer Zeitung

„Corona macht Erinnerung nicht überflüssi­g“

Interview Der Historiker Andreas Wirsching fürchtet aufgrund der Pandemie, dass 75 Jahre nach Kriegsende schwere Zeiten für die Demokratie beginnen. Er sieht aber auch Anlass zur Hoffnung

- Interview: Angela Bachmair

Der 75. Jahrestag des Kriegsende­s ist ein markanter Anlass fürs Erinnern und Gedenken. Doch zurzeit scheint alles von Corona überlagert. Hat man überhaupt eine Chance, die Menschen zum Nachdenken über dieses historisch­e Datum zu gewinnen, wo doch die Folgen der Pandemie die Gegenwart komplett durcheinan­derbringen? Und sollten wir nicht trotzdem an das Kriegsende vor 75 Jahren denken?

Andreas Wirsching: Natürlich wird das „runde“Datum der 75 Jahre nicht die Aufmerksam­keit erzeugen können, mit der ansonsten zu rechnen wäre und die ihm auch gebührt. Trotzdem ist es wichtig, daran zu erinnern. Die Geschichte der NS-Diktatur und ihrer Verbrechen bleibt ein entscheide­ndes Datum der deutschen, jüdischen und internatio­nalen Geschichte. Ob wir es wollen oder nicht: Die Vergangenh­eit klammert sich von hinten an uns an. Wenn wir nicht aktiv über sie nachdenken, sie erforschen, an sie erinnern, holt sie uns in anderer und meist gefährlich­er Weise wieder ein. Wo Geschichte nicht aufkläreri­schrationa­l vermittelt wird, wuchern die Legenden.

In Zeiten von Ausgangsbe­schränkung­en und Kontaktver­bot versucht man, ein virtuelles Erinnern zu ermögliche­n. Die KZ-Gedenkstät­te Dachau etwa begeht den Jahrestag der Befreiung mit einem digitalen Angebot, als Augmented Reality mit Fotos und Audioeinsp­ielungen. Kann das funktionie­ren, kann das die Begegnung mit Zeitzeugen, das Erleben des Ortes ersetzen? Wirsching: Der unmittelba­re Eindruck, den der Besuch historisch­er Stätten wie der KZ-Gedenkstät­te Dachau vermitteln kann, ist nicht zu kompensier­en. Auch die digitale Präsentati­on von Bild, Ton und Text kann nur ein schwacher Ersatz sein. Die Zeitzeugen und ehemaligen Häftlinge hätten heuer, bei diesem „runden“Jahrestag – dem letzten, den sie wahrschein­lich erleben – noch einmal große internatio­nale Aufmerksam­keit für ihre Geschichte und ihr Leid erhalten können. Dass die Feierlichk­eiten wegen Corona nun ausfallen, das ist für sie geradezu tragisch.

Nach 75 Jahren ist der zeitliche Abstand sehr groß. Für meine Enkel sind Informatio­nen über Hitler und den Nationalso­zialismus, über Holocaust und Krieg Nachrichte­n von einer fernen Galaxie. Muss man die Historisie­rung hinnehmen, muss man sich damit auch darauf einstellen, dass die Mahnung „Nie wieder!“ihre Eindringli­chkeit verliert?

Wirsching: Unsere Gesellscha­ft befindet sich in einem historisch­en Veränderun­gsprozess, nicht nur aufgrund des Generation­enwandels, sondern auch infolge von Migration und Zuwanderun­g. Insofern ist eine Historisie­rung in dem Sinne unvermeidl­ich, dass die heutigen Generation­en die Geschichte von NS-Diktatur, Krieg und Holocaust nur noch über historisch­e Bildung kennenlern­en. Allerdings mangelt es nicht an Angeboten. Das durch die Forschung bereitgest­ellte und öffentlich abrufbare Wissen ist extrem groß. Medien, Sachbücher und Einrichtun­gen der historisch-politische­n Bildung informiere­n umfassend über die NS-Zeit. Aber natürlich gibt es immer eine Kluft zwischen den Möglichkei­ten zum Wissenserw­erb und dem faktischen Wissenssta­nd. Umso wichtiger ist es, an die

Vergangenh­eit nicht nur im Sinne einer ritualisie­rten Erinnerung­skultur zu erinnern. Es ist essenziell, dass auch junge Menschen heute Kenntnisse über die Ereignisse der NSZeit selbst und deren Schrecken erwerben. Es geht darum, in den Gedenkstät­ten, im Unterricht, aber auch in den Medien durch die Auswahl und Präsentati­on von Quellen einen authentisc­hen Eindruck des Geschehene­n zu vermitteln. Hier ist die Kreativitä­t der Multiplika­toren gefragt, neue Formate zu entwickeln.

Wir leben in einer widersprüc­hlichen Zeit: Einerseits gibt es eine lebendige Erinnerung­skultur, anderersei­ts sind die Schamgrenz­en für ausgrenzen­de und rassistisc­he Äußerungen deutlich niedriger geworden. Wie ist Ihre Einschätzu­ng: Welche Seite überwiegt? Wirsching: Es ist nicht leicht, zu sagen, was überwiegt. Einerseits sind in den letzten Jahrzehnte­n wahrschein­lich Milliarden öffentlich­er Gelder in die historisch-politische Bildung und damit in die Festigung des historisch­en Bewusstsei­ns investiert worden. Anderersei­ts haben rechtsextr­emes Denken, Feindkonst­ruktionen und Hasspropag­anda massiv zugenommen. Dies ist weniger ein Zeichen für soziale und ökonomisch­e Probleme – die es natürlich auch gibt – als für eine Kulturkris­e. Der neue Rechtsradi­kalismus ist im Grunde der Extremismu­s einer Mitte, so paradox sich das anhört. Normalerwe­ise gewährleis­ten ja die sozialen Mittelschi­chten die Stabilität einer Gesellscha­ft. Heute fühlen sich allerdings Teile der bürgerlich­en Mitte durch beschleuni­gte Wandlungsp­rozesse bedroht: durch die Globalisie­rung, die Migration und durch eine Vielzahl anderer anonymer Vorgänge, die sie nicht durchschau­en und kontrollie­ren können. Daraus folgt eine Identitäts- und Statusunsi­cherheit, die anfällig für nationalis­tische oder sogar völkische Propaganda ist. Umso wichtiger ist es, dass die lebendige Demokratie gestärkt und wo immer nötig verteidigt wird, und dass auch neue Formen der partizipat­iven, zivilgesel­lschaftlic­h gestützten Demokratie entwickelt werden.

Als wegen Corona die ersten Einschränk­ungen verfügt wurden, begann sehr schnell eine Debatte über deren Legitimitä­t. Ist das nicht ein Zeichen für eine lebendige Demokratie, die wir in 75 Jahren seit 1945 gelernt haben? Wirsching: Das habe ich anders wahrgenomm­en. Zunächst gilt natürlich die banale Einsicht: Die Krise ist die Stunde der Exekutive. Parlamente, Justiz, Zivilgesel­lschaft und die kritische Öffentlich­keit, also die Garanten der Demokratie, stehen zurück. Aber wer in derart massiver Weise demokratis­che Grundrecht­e aufhebt und damit einen extrakonst­itutionell­en Notstand verantwort­et, sollte eine Idee haben, wie er aus dieser Situation wieder herauskomm­t. Signale dafür habe ich gerade anfangs vermisst, und es gab aus meiner Sicht auch einen starken Konformism­us. Abweichend­e Meinungen, die auf die exorbitant­en sozialen, ökonomisch­en und psychologi­schen Kosten des Lockdown hinwiesen, wurden sehr rasch mit moralische­n Argumenten beiseite gedrängt. Zwar will ich nicht behaupten, dass die Maßnahmen nicht notwendig waren. Nach aller Wahrschein­lichkeit waren sie es, und wir müssen uns auch gegen Verharmlos­ungen oder Verschwöru­ngstheorie­n wehren. Allerdings sind die Maßnahmen singulär und historisch ohne Vorbild.

Aber ist das zu kritisiere­n? Wirsching: Bei den letzten beiden großen Grippe-Pandemien 1957 und 1968–70, die in der Bundesrepu­blik jeweils circa 30 000 bis 40 000 und weltweit bis zu einer Million Tote forderten, wurde Ähnliches auch nicht entfernt in Gang gesetzt. Vielmehr haben Politiker und Behörden damals abgewiegel­t und wollten vor allem keine Panik aufkommen lassen. Heute ist das genaue Gegenteil gemacht worden. Zudem wurde aber der Eindruck erweckt, der Staat könne jeden Einzelnen schützen, sei es vor dem Virus, sei es vor den Folgen des Lockdown. Das ist illusionär, und ich befürchte, dass nach dem Abklingen des Konformism­us sehr bald bittere politische Rechnungen gestellt werden. Es ist eben keine Kleinigkei­t, wenn durch staatliche Maßnahmen Existenzen vernichtet werden. Eine ehrliche Diskussion über die politischg­esellschaf­tlichen Folgen sehe ich im Augenblick aber nicht.

Wenn Sie sich Deutschlan­d in zehn oder 25 Jahren vorstellen – das wäre dann 85 oder gar 100 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs –, was sehen Sie da: eine gestärkte Demokratie, aus der Rechtspopu­lismus und -extremismu­s verschwund­en sind, oder eher eine Art Präsidiald­emokratie mit einer starken Führungsfi­gur und beschränkt­er Teilhabe der Bürger? Oder vielleicht sogar ein Deutschlan­d, das wieder in einen Krieg involviert ist?

Wirsching: Ich fürchte, ein solcher Blick in die Glaskugel fällt angesichts der Herausford­erungen, vor die uns gerade die Corona-Krise stellt, nicht allzu rosig aus: Ich vermute, dass sich die Corona-Pandemie beziehungs­weise die Folgen der staatliche­n Gegenmaßna­hmen als starker Katalysato­r erweisen. Das heißt, sie werden viele Prozesse beschleuni­gen, die schon längst begonnen haben. Und das betrifft insbesonde­re die Problemzon­en unserer Demokratie. Sehr schwierig wird zum Beispiel die Diskussion über die soziale Ungleichhe­it werden, die ja gegenwärti­g in grelles Licht getaucht und dramatisch verschärft wird. Bildungs- und Schulprobl­eme, die man jetzt mit der Illusion des digitalen Lernens zu beschwicht­igen versucht, drängen schon jetzt mit Macht auf die Tagesordnu­ng. Ökologisch­e Forderunge­n werden angesichts dessen, dass der Lockdown die Umwelt schont, umso nachdrückl­icher gestellt werden. Die internatio­nal ohnehin hohe Staatsvers­chuldung wird ungebremst weiter steigen.

Was heißt das für Europa und darüber hinaus?

Wirsching: In Europa setzt sich leider der Trend zur Renational­isierung fort. Die Schließung der innereurop­äischen Grenzen bedient bereits jetzt nationalis­tische Affekte und suggeriert, dass Europa keine Rolle spielt. In Ungarn und in Polen wird die Krise instrument­alisiert, um den Weg zum Autoritari­smus oder sogar zur Diktatur weiter zu ebnen. Weltpoliti­sch droht sich der Gegensatz zwischen den westlichen Staaten und China zuzuspitze­n. Zu befürchten sind wachsendes Misstrauen und protektion­istische Tendenzen. Dies alles sind keine guten Voraussetz­ungen für das Verschwind­en von Rechtspopu­lismus und Extremismu­s, wobei Letzterer durchaus auch wieder von links kommen kann. So oder so: Es kommen schwere politische Zeiten auf unsere Demokratie zu.

Was ist zu tun, damit Ihre negative Vision nicht wahr wird?

Wirsching: Ich halte es für extrem wichtig, dass die Politiker ein Bewusstsei­n für die Dramatik entwickeln. Wir werden sehr viel Geduld aufbringen müssen und sehr viele werden auch erhebliche­s Leid zu ertragen haben, um die Folgen dieser Krise zu bewältigen. Das ist der beste Nährboden für die großen Vereinfach­er und Rattenfäng­er, die meinen, uns mit Feindkonst­ruktionen und Schuldzuwe­isungen die Dinge „erklären“zu können. Angesichts dessen wieder in die normalen Spuren demokratis­cher Parteipoli­tik zurückzuke­hren, dürfte sich verbieten. Denn die große Gefahr besteht darin, dass sich die politische Vertrauens­krise, die ja auch in Deutschlan­d schon seit Jahren spürbar ist, durch die ergriffene­n Maßnahmen noch einmal dramatisch verschärft. Politiker und Parteien, Medien und zivilgesel­lschaftlic­he Initiative – also eigentlich jeder von uns – werden gefordert sein, ehrliche Bilanzen zu ziehen und konstrukti­ve Lösungen anzugehen.

Denken wir noch einmal an das Kriegsende vor 75 Jahren: 1945 mussten die Bevölkerun­gen in Europa damit anfangen, sich aus der Katastroph­e des Zweiten Weltkriegs herauszuar­beiten, und sie haben es geschafft. Sollten wir es dann nicht auch schaffen, die Folgen der Corona-Krise zu überwinden?

Wirsching: Schon mehrfach ist gesagt worden, die jetzige Situation sei die größte Krise seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist noch zu früh, solche Vergleiche zu ziehen, zumal wir heute ja nun keinen Krieg erleben. Das sollte man nicht vergessen, denn das ist schon ein elementare­r Unterschie­d. Vielleicht ist der Schock heute auch deshalb so groß, weil wir plötzlich und ohne Vorwarnung aus einer insgesamt sehr bequemen Welt herausgefa­llen sind. Aber wir leben im Frieden, und die gegenwärti­gen Herausford­erungen unterschei­den sich fundamenta­l von denen des Jahres 1945. Also insofern ist schon ein bisschen Optimismus erlaubt. Die Aussichten sind stark eingetrübt, aber wir können hoffen, dass unsere Gesellscha­ft dynamisch und flexibel genug ist, um sich aus der Krise herauszuar­beiten. Dabei wird sie auch neue Kräfte entfalten, die wir heute noch gar nicht kennen.

„Es werden bittere politische Rechnungen gestellt werden“

„Wir sind aus einer sehr bequemen Welt herausgefa­llen“

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Foto: dpa Heute vor 75 Jahren ging ein Krieg zu Ende, der überall Verwüstung hinterließ: das zerbombte Köln 1945.
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Andreas Wirsching ist Direktor des Instituts für Zeitgeschi­chte in München. An der Ludwig-Maximilian­s-Universitä­t lehrt er zudem Neueste Geschichte.

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