Verzweifelter Familienvater sah keinen Ausweg mehr
Justiz 41-jähriger muss sich zwei Jahre nach seiner Verzweiflungstat wegen fahrlässiger Brandstiftung vor Gericht verantworten. Aus Frust und im Vollrausch wollte der Türkheimer seinem Leben ein Ende setzen
Türkheim/Memmingen Das Leben schreibt mitunter Geschichten, für die das Strafrecht nicht die passenden Antworten parat hält. Vor dem Amtsgericht Memmingen musste sich jetzt ein inzwischen 41-jähriger Mann wegen fahrlässiger Brandstiftung verantworten. Es fiel dem Gericht dabei nicht leicht, eine angemessene Strafe zu finden.
5. März 2018: Der Angeklagte ist seit mehr als zehn Jahren Alleinerziehender und lebt mit seinem schulpflichtigen Sohn in einer Dachgeschosswohnung in Türkheim. Wegen Eigenbedarf wurde ihm gekündigt, ausziehen aber will er nicht. Es kommt zur Zwangsräumung. Spätestens als sich das Jugendamt meldet, um ihm zu erklären, dass sein Kind in Obhut genommen werde, weiß er: Es wird ernst. Er wird tatsächlich auf die Straße gesetzt.
Also verbarrikadiert er seine Wohnung. Er packt Sachen für seinen Sohn zusammen, fertigt einen Abschiedsbrief und trifft Vorbereitungen, sich das Leben zu nehmen. Er trinkt Wodka. Von mehr als eineinhalb Flaschen ist vor Gericht die Rede. Später wird eine Blutalkoholkonzentration
von fast drei Promille errechnet.
Dazu nimmt er Schmerztabletten. Als die Gerichtsvollzieherin mit zwei Polizeibeamten aus Bad Wörishofen anrückt, öffnet er nicht. Also soll die Wohnung mithilfe eines Schlüsseldienstes gewaltsam geöffnet werden. In diesem Moment gehen die Rauchmelder an. Brandgeruch macht sich breit. Bis die Polizei die Barrikaden hinter der Wohnungstüre überwinden kann, sind schon alle Räume verraucht. In der Küche brennt es. Der Mieter hat sich aufs Dach des Hauses geflüchtet. Dort liegt er, hält sich an einem Schneefanggitter fest.
Der Einsatzleiter der Feuerwehr berichtet dem Schöffengericht unter Vorsitz von Richter Nicolai Braun, dass man ihn habe mithilfe einer Steckleiter retten wollen. Der Mann aber stößt die Leiter weg, stattdessen lässt er sich vom Dach fallen und landet schwer verletzt auf einem Glasdach. Die Folge: mehrere Wochen Krankenhausaufenthalt.
Die Küche der Dachgeschosswohnung brennt nahezu vollständig aus. Der Sachschaden beläuft sich auf etwa 100.000 Euro. Sein Sohn befindet sich noch in der Schule. Drei weitere Bewohner des Hauses gelangen unverletzt ins Freie.
Polizei und Staatsanwaltschaft ermitteln wegen vorsätzlicher Brandstiftung. Nach Abschluss der Ermittlungen landet der Vorgang zunächst beim Landgericht. Nach dem Studium der Akten aber kommen die Juristen zu dem Schluss, dass der Mieter die Wohnung gar nicht absichtlich angezündet haben muss und verweisen den Fall an das Amtsgericht.
Und tatsächlich fordert Oberstaatsanwalt Markus Schroth jetzt auch nur eine Verurteilung wegen fahrlässiger Brandstiftung.
Denn in Wirklichkeit wollte sich der Mann wohl erhängen. Die Beweisaufnahme bestätigt: Beim Umräumen der Wohnung hat er eine Matratze aus dem Kinderzimmer so unglücklich in der Küche platziert, dass sie sich an einem Teelicht entzündet hat.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen will der Angeklagte am liebsten gar nichts sagen.
Er wächst bei seiner Tante auf, bricht eine Lehre ab und schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch. Zu einem älteren Sohn hat er keinen Kontakt. Der Jüngere will seit dem Geschehen im März vor zwei Jahren auch nichts mehr mit ihm zu tun haben und lebt im Heim. „Soweit ganz gut“, antwortet er auf die Frage des Vorsitzenden Richters, wie es ihm jetzt ginge. Er beziehe derzeit Hartz IV.
Strafrechtlich in Erscheinung getreten ist er weder vor noch nach dem Ereignis in Türkheim. Der psychiatrische Gutachter hat den Angeklagten berichtet, dass der Mann seit rund einem Jahrzehnt „an einer wahnhaften Störung“leide. Die Voraussetzungen einer verminderten Schuldfähigkeit seien in jedem Fall gegeben, auch wegen des Alkoholkonsums und der Tabletten. Die Steuerungsfähigkeit sei erheblich eingeschränkt gewesen.
Die Plädoyers von Staatsanwalt und Verteidiger unterscheiden sich kaum. Der Mann braucht Hilfe, das erscheint klar. Richter Braun verkündet am Ende das Urteil: Ein Jahr Freiheitsstrafe, ausgesetzt zur Bewährung.
Dazu 50 Stunden gemeinnützige Arbeit und die Verpflichtung, mithilfe des Bewährungshelfers einen Platz für eine psychiatrische Behandlung zu suchen. Es sei ein „untypisches Strafverfahren“gewesen, betont Braun und bestätigt damit, was die meisten Zuhörer empfinden.
Für alle Beteiligten ein „untypisches“Verfahren