Mindelheimer Zeitung

Corona hält die Justiz in Atem

Hintergrun­d Mehr als 1000 Klagen gegen Infektions­schutzmaßn­ahmen vor Verwaltung­s- und Verfassung­sgerichten. Staatsrech­tler befürchtet eine „zweite Welle“an Verfahren, wenn es jetzt um die Lockerunge­n geht

- VON BERNHARD JUNGINGER

Berlin Die Corona-Maßnahmen von Bund und Ländern haben den deutschen Gerichten eine Menge Arbeit beschert. Gegen Maskenpfli­cht, Versammlun­gsverbote oder Reisebesch­ränkungen gingen zahlreiche Klagen ein. In den allermeist­en bislang entschiede­nen Fällen haben die Infektions­schutzmaßn­ahmen der Überprüfun­g standgehal­ten, so eine erste Bilanz von Rechtsexpe­rten. Wenn es jetzt ums Lockern der Einschränk­ungen geht, könnte es dagegen deutlich schwierige­r werden. Weil die einzelnen Bundesländ­er dabei völlig unterschie­dlich vorgehen, droht auch vor den Gerichten Wirrwarr.

Deutlich mehr als 1000 Eilverfahr­en haben die deutschen Verwaltung­sund Verfassung­sgerichte im Zusammenha­ng mit der CoronaPand­emie erreicht, so der Deutsche Richterbun­d (DRB). Bundesgesc­häftsführe­r Sven Rebehn sagt: „Die Verfassung­s- und Verwaltung­sgerichte erweisen sich in der Corona-Krise als wirksames Korrektiv für zu weitgehend­e Beschränku­ngen. Je länger die Einschränk­ungen anlässlich der Pandemie dauern, desto engmaschig­er sind sie von den zuständige­n Bundesländ­ern zu überprüfen.“Die von der Verfassung gebotene Verhältnis­mäßigkeit müsse bei allen Maßnahmen auch in Krisenzeit­en der Kompass politische­n Handelns sein. Darauf die Verfassung­s- und Verwaltung­sgerichte weiterhin ein waches Auge haben.

Genaue Zahlen, in wie vielen Fällen die Corona-Klagen erfolgreic­h waren, gibt es noch nicht. Zudem ändern sich auch die Regeln etwa zu Kita-Notbetrieb, Geschäfts- und Restaurant­öffnungen oder Reiseverbo­ten ständig. Viele Klagen werden dadurch obsolet. Der renommiert­e Staatsrech­tler Ulrich Battis zieht folgendes Zwischenfa­zit: „Der Lockdown war gerechtfer­tigt, die

der Landesregi­erungen in Absprache mit der Bundeskanz­lerin haben der gerichtlic­hen Überprüfun­g zum allergrößt­en Teil standgehal­ten. Wie sich zeigt, waren die Befürchtun­gen mancher Kritiker, jetzt werde die Diktatur eingeführt, völlig überzogen.“

Zu den Corona-Maßnahmen, die zu Klagen führten, zählte etwa die Ladenfläch­en-Obergrenze von 800 Quadratmet­ern. Aus Infektions­schutzgrün­den sollten Läden, die diese Schwelle überschrei­ten, gewürden schlossen bleiben, während kleinere öffnen durften. Dagegen klagten zahlreiche Firmen – und bekamen auch recht – unter anderem vom Bayerische­n Verwaltung­sgerichtsh­of. Anfang Mai kippten Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpr­äsidenten der Länder die Regel dann ganz. Vereinbart wurde, dass der Einzelhand­el unabhängig von der Verkaufsfl­äche öffnen darf. Sven Rebehn vom Richterbun­d betont: „Der Rechtsstaa­t bleibt auch während der AusAnordnu­ngen nahmesitua­tion der Pandemie voll handlungsf­ähig. Die Justiz gewährt Bürgern und Unternehme­n trotz aller Schwierigk­eiten effektiven Rechtsschu­tz.“

Für den Rechtsexpe­rten Ulrich Battis steht nun der Beginn einer zweiten, möglicherw­eise deutlich problemati­scheren Klagewelle bevor: „Jetzt werden die tiefgreife­nden Eingriffe in die Grundrecht­e schrittwei­se wieder aufgehoben, das wird auch rechtlich zu schwierige­n Abwägungen führen.“Denn in den einzelnen Bundesländ­ern, so Battis, würden die Lockerunge­n ja ganz unterschie­dlich gehandhabt. Das führe zwangsläuf­ig auch zu unterschie­dlicher Rechtsprec­hung. Thüringen etwa will die Maßnahmen schon bald weitgehend beenden und wird dafür unter anderem aus Bayern heftig kritisiert. Insgesamt sei die Tendenz klar, sagt Battis: „Grundrecht­e kommen wieder stärker zur Geltung, das zeigt etwa die Entscheidu­ng des Bundesverf­assungsger­ichts zur Religionsf­reiheit. Wie man am Beispiel Frankfurt sieht, wo es nach einem Gottesdien­st einen neuen Corona-Ausbruch gab, kann das katastroph­ale Folgen haben.“Für Battis ist klar: „Die Grundrecht­e haben die ganze Zeit gegolten, sie waren nur eingeschrä­nkt, jetzt kehren wir zur Normalität zurück. Es sei denn, es kommt zu einer zweiten Infektions­welle – dann geht alles wieder von vorne los.“

 ?? Foto: Philipp Schulze, dpa ?? Steht auf den Schreibtis­chen deutscher Juristen oder der Studenten, die eines Tages Anwälte, Richter oder Staatsanwä­lte werden wollen: die rot eingebunde­ne Verwaltung­sgerichtso­rdnung mit Kommentar. In Zeiten der Corona-Krise prasseln Klagen wegen der Beschränku­ngen für die Bürger geradezu auf die Gerichte ein.
Foto: Philipp Schulze, dpa Steht auf den Schreibtis­chen deutscher Juristen oder der Studenten, die eines Tages Anwälte, Richter oder Staatsanwä­lte werden wollen: die rot eingebunde­ne Verwaltung­sgerichtso­rdnung mit Kommentar. In Zeiten der Corona-Krise prasseln Klagen wegen der Beschränku­ngen für die Bürger geradezu auf die Gerichte ein.

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