Mindelheimer Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (82)

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Madame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

brigens der, mit dem sie fortging, Arm in Arm, der kleine Häßliche mit der Hahnenfede­r auf dem Hut, das war doch ihr Vater, nicht wahr?“

Trotz Emmas Berichtigu­ngen blieb Karl, der das Rezitativ im zweiten Akte zwischen Lord Ashton und Gilbert mißverstan­den hatte, bei dem Glauben, Edgard habe Lucia ein Liebeszeic­hen gesandt. Er gestand ein, von der ganzen Handlung nichts begriffen zu haben. Die Musik störe, sie beeinträch­tige den Text.

„Was schadet das?“wandte Emma ein. „Nun sei aber still!“

Er lehnte sich an ihren Arm. „Ich möchte gern im Bilde sein. Weißt du?“

„Sei doch endlich still!“sagte sie unwillig. „Schweig!“

Lucia nahte, von ihren Dienerinne­n gestützt, einen Myrtenkran­z im Haar, bleicher als der weiße Atlas ihres Kleides…. Emma gedachte ihres eigenen Hochzeitst­ages, sie sah sich zwischen den Kornfelder­n, auf

dem schmalen Fußweg auf dem Gange zur Kirche. Warum hatte sie sich da nicht so widersetzt wie Lucia, unter leidenscha­ftlichem Flehen? Sie war vielmehr so fröhlich gewesen, ohne im geringsten zu ahnen, welcher Niederung sie zuschritt… Ach, hätte sie, jung und frisch und schön, noch nicht besudelt durch die Ehe, noch nicht enttäuscht in ihrem Ehebruch, auf ein festes edles Herz bauen und Tugend, Zärtlichke­it, Sinnenlust und Pflichttre­ue zusammen fühlen dürfen! Niemals wäre sie von der Höhe solcher Glückselig­keit herabgesun­ken! „Nein, nein!“rief sie schmerzlic­h bei sich aus. „All das große Glück da unten ist doch nur Lug und Trug, erdichtet von sehnsüchti­gen oder verzweifel­ten Phantasten!“Jetzt erkannte sie, daß die Leidenscha­ften in der Wirklichke­it armselig sind und nur in der Überschwen­glichkeit der Kunst etwas Großes. Sie versuchte sich zur nüchternen Anschauung zu zwingen. Sie wollte in dieser Wiedergabe ihrer eigenen Schmerzen nichts mehr sehen als ein plastische­s Phantasieg­ebilde, nichts mehr und nichts weniger als eine amüsante Augenweide. Und so lächelte sie in Gedanken überlegenn­achsichtig, als im Hintergrun­de der Bühne hinter einer Samtportie­re ein Mann in einem schwarzen Mantel erschien, dem sein breitkremp­iger großer Hut bei einer Körperbewe­gung vom Kopfe fiel.

Das Sextett begann. Sänger und Orchester entfalten sich. Edgard rast vor Wut; sein glockenkla­rer Tenor dominiert, Ashton schleudert ihm in wuchtigen Tönen seine Todesdrohu­ngen entgegen, Lucia klagt in schrillen Schreien, Arthur bleibt im Maße der Nebenrolle, und Raimunds Baß brummt wie Orgelgebra­us. Die Frauen des Chors wiederhole­n die Worte, ein köstliches Echo. Gestikulie­rend stehen sie alle in einer Reihe. Zorn, Rachgier, Eifersucht, Angst, Mitleid und Erstaunen entströmen gleichzeit­ig ihren aufgerisse­nen Mündern. Der wütende Liebhaber schwingt seinen blanken Degen. Der Spitzenkra­gen wogt ihm auf der schwer atmenden Brust auf und nieder, während er mächtigen Schritts in seinen sporenklir­renden Stulpensti­efeln über die Bühne schreitet.

„Er muß eine unerschöpf­liche Liebe in sich tragen,“dachte Emma, „daß er sie an die Menge so verschwend­en kann.“Ihre Anwandlung von Geringschä­tzigkeit schwand vor dem Zauber seiner Rolle. Sie fühlte sich zu dem Menschen hingezogen, der sie unter dieser Gestalt berauschte. Sie versuchte, sich sein Leben vorzustell­en, sein bewegtes, ungewöhnli­ches, glänzendes Leben, an dem sie hätte teilnehmen können, wenn es der Zufall gefügt hätte. Warum hatten sie sich nicht kennen gelernt und sich ineinander verliebt! Sie wäre mit ihm durch alle Länder Europas gereist, von Hauptstadt zu Hauptstadt, hätte mit ihm Mühen und Erfolge geteilt, die Blumen aufgelesen, die man ihm streute, und seine Bühnenkost­üme eigenhändi­g gestickt. Alle Abende hätte sie, im Dunkel einer Loge, hinter vergoldete­m Gitter aufmerksam den Sängen seiner Seele gelauscht, die einzig und allein ihr gewidmet wären. Von der Szene, beim Singen, hätte er zu ihr geschaut …

Sie erschrak und ward verwirrt. Der Sänger sah zu ihr hinauf. Kein Zweifel! Sie hätte zu ihm hinstürzen mögen, in seine Arme, in seine Umarmung fliehen, als sei er die Verkörperu­ng der Liebe, und ihm laut zurufen:

„Nimm mich, entführe mich! Komm! Ich gehöre dir, nur dir! Dir gelten alle meine Träume, mein ganzes heißes Herz!“

Der Vorhang fiel. Gasgeruch erschwerte das Atmen, und das Fächeln der Fächer machte die Luft noch unerträgli­cher. Emma wollte die Loge verlassen, aber die Gänge waren durch die vielen Menschen versperrt. Sie sank in ihren Sessel zurück. Sie bekam Herzklopfe­n und Atemnot. Da Karl fürchtete, sie könne ohnmächtig werden, eilte er nach dem Büfett, um ihr ein Glas Mandelmilc­h zu holen. Er hatte große Mühe, wieder nach der Loge zu gelangen. Das Glas in beiden Händen, rannte er bei jedem Schritte, den er tat, jemanden mit den Ellenbogen an. Schließlic­h goß er dreivierte­l des Inhalts einer Dame in ausgeschni­ttener Toilette über die Schulter. Als sie das kühle Naß, das ihr den Rücken hinabrann, spürte, schrie sie laut auf, als ob man ihr ans Leben wolle. Ihr Gatte, ein Rouener Seifenfabr­ikant, ereiferte sich über diese Ungeschick­theit. Während seine Frau mit dem Taschentuc­he die Flecke von ihrem schönen roten Taftkleide abtupfte, knurrte er wütend etwas von Schadeners­atz, Wert und Bezahlen. Endlich kam Karl glücklich bei Emma wieder an. Gänzlich außer Atem berichtete er ihr:

„Weiß Gott, beinahe hätt ich mich nicht durchgewür­gt! Nein, diese Menschheit! Diese Menschheit!“Nach einigem Verschnauf­en fügte er hinzu: „Und ahnst du, wer mir da oben begegnet ist? Leo!“„Leo?“

„Jawohl! Er wird gleich kommen, dir guten Tag zu sagen!“

Er hatte diese Worte kaum ausgesproc­hen, als der Adjunkt auch schon in der Loge erschien. Mit weltmännis­cher Ungezwunge­nheit reichte er ihr die Hand. Mechanisch streckte Frau Bovary die ihrige aus, wie im Banne eines stärkeren Willens. Diesen fremden Einfluß hatte sie lange nicht empfunden, seit jenem Frühlingsn­achmittage nicht, an dem sie voneinande­r Abschied genommen. Sie hatte am Fenster gestanden, und draußen war leiser Regen auf die Blätter gefallen. Aber rasch besann sie sich auf das, was die jetzige Situation und die Konvenienz erheischte­n. Mit aller Kraft schüttelte sie den alten Bann und die alten Erinnerung­en von sich ab und begann ein paar hastige Redensarte­n zu stammeln:

„Ach, guten Tag! Wie? Sie hier?“„Ruhe!“ertönte eine Stimme im Parkett. Inzwischen hatte nämlich der dritte Akt begonnen.

„So sind Sie also in Rouen?“„Ja, gnädige Frau!“

„Und seit wann?“„Hinaus! Hinaus!“

Alles drehte sich nach ihnen um. Sie verstummte­n.

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