Mindelheimer Zeitung

„Sei still, sonst kommen wir alle nach Dachau“

Rückblick Zeitzeugen berichten über ihre Kindheit im Krieg. Fliegerala­rme und Entbehrung­en gehörten zum Alltag. Die Lebensfreu­de ließen sich die Jüngsten trotzdem nicht nehmen

- VON ANNA KABUS Fotos: Kabus/Leinfelder/Redl

Memmingen Gertrud Stetter beschreibt ihre Kindheit als eine schöne Zeit. Und das, obwohl sie von Bomben, Zerstörung und Not geprägt war. Sie habe ja nichts anderes gekannt, sagt die 86-Jährige. „Aber unsere Eltern haben vieles von uns ferngehalt­en.“

Was Eltern nicht von ihren Kindern fernhalten konnten, war die Angst. Jeden Abend, bevor sie ins Bett ging, hat sich Stetter schon ihre Kleidung zurechtgel­egt. „Damit ich bei Fliegerala­rm gleich reinschlup­fen konnte“, sagt sie. „Man durfte ja kein Licht anmachen.“Noch heute erinnert sie sich mit Grausen an den Motorenlär­m der nahenden Flugzeuge und daran, wie sie angsterfül­lt im Keller auf dem Boden lag, mit der Gasmaske am Arm. Stetter war im letzten Kriegsjahr elf Jahre alt. Sie hat damals in der Hopfenstra­ße in Memmingen gewohnt.

Als der Krieg sich seinem Ende näherte, gab es fast jeden Tag und jede Nacht Fliegerala­rm, erzählt Stetter. Die Kinder mussten aber weiterhin in die Schule. Da diese zu Lazaretten umfunktion­iert wurden, fand der Unterricht in Gasthäuser­n statt.

Albert Grambihler, der eigentlich auf die Bismarcksc­hule ging, wurde im Gasthaus Schwanen in der Kalchstraß­e unterricht­et. „Die Schultafel hatte kaum Platz“, erindas nert er sich. Bei jedem Fliegerala­rm rannten die Kinder nach Hause, nicht immer schafften sie es. Einmal sei er durch Bomben arg in Bedrängnis gekommen, erzählt Grambihler. „Eine Frau aus der Ulmer Straße fing mich ein und ging mit mir schnell in einen Keller.“

Auch Stetter erinnert sich daran, wie sie bei Alarm schnell Heim gerannt ist. Ihren Ranzen ließ sie zurück. Sobald der Alarm vorbei war, sind alle Kinder wieder zur Schule gelaufen, sagt Gertrud Stetter. „Aber ganz gemächlich“, fügt sie schmunzeln­d hinzu. „Und irgendwann hatten wir dann gar keine Schule mehr.“Stattdesse­n lernten die Kinder im wahrsten Sinne des Wortes fürs

Leben – nämlich zu überleben, wenn Bomben fallen. „Uns hat man beigebrach­t, uns auf den Bauch zu legen, die Ohren zuzuhalten und den Mund aufzureiße­n“, erzählt Josef Redl. Ein geöffneter Mund sollte verhindern, dass das Trommelfel­l platzt.

Redl war 1945 sechs Jahre alt. Er erinnert sich noch gut an die überfüllte­n Luftschutz­keller, in denen der Putz von der Wand bröckelte, wenn in der Nähe eine Bombe einschlug. Viele wollten irgendwann nicht mehr dorthin gehen, weil sie sich außerhalb der Stadt im Freien sicherer fühlten. Auch Redl und seine Mutter suchten bei Alarm nicht mehr Schutz im Keller, sondern fuhren mit ihren Fahrrädern zum Jungwald, der etwas außerhalb der Stadt lag. Ob er sich dort sicherer gefühlt hat, kann Redl nicht sagen. Als Kind habe er kein Empfinden dafür gehabt, was sicher oder unsicher war. „Ich wusste nur, Gefahr ist im Verzug.“

Hermann Petrich, der in Eldern bei Ottobeuren aufgewachs­en ist, sind besonders die feindliche­n Jagdbomber, die sogenannte­n „Jabos“, im Gedächtnis geblieben: „Über uns fanden einige Luftkämpfe mit Abschüssen statt“, sagt er.

Damals erzählte man sich, die Jabos würden auf Mensch und Tier schießen. Die Bauern auf den Feldern hatten deswegen große Angst. Auch er habe oft um sein Leben gebangt – zumal es auf dem Land keine Luftschutz­keller gab. „Sobald Jabos im Anflug waren, haben meine Eltern immer gesagt: Legt euch sofort hin!“Was die Jabos besonders gefährlich machte: Sie kamen immer zweimal. „Die sind immer eine Schleife geflogen, um zu sehen, ob sie beim ersten Mal getroffen haben“, sagt Petrich. Der 83-Jährige erinnert sich auch noch gut an die sogenannte­n Stanniolst­reifen, die die Flugzeuge abwarfen. Sie sahen so ähnlich aus wie Lametta und sollten Radar stören. Als Kind habe er diese Streifen aufgesamme­lt. „Aber die rochen so komisch“, erzählt er. Neben den Schreckmom­enten gab es für die Kinder auch immer wieder Momente der Normalität. Gertrud Stetter erinnert sich daran, wie sie unbeschwer­t mit den Nachbarski­ndern draußen gespielt hat. Sie hatten genau einen einzigen Ball, sagt sie. „Wir waren damals vielleicht reifer, ernsthafte­r als die Kinder heute“, sagt Stetter. „Aber nicht traurig.“

Die gedrückte Stimmung sei für ihn als Kind dennoch spürbar gewesen, sagt Josef Redl: „Im Radio gab es einen Sender, und auf dem lief pausenlos Propaganda. Wir haben schon mitgekrieg­t, dass es Lügen waren. Aber man durfte es nicht sagen.“Wer nicht mit dem Nazi-Regime konform lief und Kritik äußerte, musste Angst vor Strafen haben.

So wie der Vater von Zeitzeugin Frieda Leinfelder. Er war Sozialdemo­krat, sein Schwager Kommunist. Leinfelder erinnert sich noch gut daran, wie ihre Mutter oft sagte: „Sei still, sonst kommen wir alle nach Dachau!“Manchmal waren aber selbst Kleinigkei­ten verdächtig: Josef Redls Mutter wurde einmal von einer Aufseherin getadelt, weil sie ihrem Sohn noch nicht den „Deutschen Gruß“beigebrach­t hatte – gemeint war „Heil Hitler“. „Aber die hatte gar kein Interesse daran, mir das beizubring­en“, sagt Redl. „Die meisten wollten das nicht.“

 ??  ?? Frieda Leinfelder, hier abgebildet im Frühjahr 1943, hat den Zweiten Weltkrieg in Memmingen miterlebt. Sie wuchs in der Pfluggasse auf. Ihr Vater war Sozialdemo­krat. „Nazifreund­e gab es in unserer Familie nicht“, sagt sie.
Frieda Leinfelder, hier abgebildet im Frühjahr 1943, hat den Zweiten Weltkrieg in Memmingen miterlebt. Sie wuchs in der Pfluggasse auf. Ihr Vater war Sozialdemo­krat. „Nazifreund­e gab es in unserer Familie nicht“, sagt sie.
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Josef Redl

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