Mindelheimer Zeitung

Brennpunkt Schlachtho­f

- VON STEPHANIE SARTOR

Nie zuvor stand die Fleischind­ustrie so sehr im Fokus wie jetzt. Und so sehr am Pranger. Hunderte Schlachtho­f-Mitarbeite­r haben sich mit dem Coronaviru­s infiziert. Wie die Pandemie besorgnise­rregende Zustände offenlegt – und welche Rolle wir Verbrauche­r eigentlich spielen

Ulm/Missen Das Leben ging vor einer halben Stunde. Nun hängen sie da, aufgeschli­tzt, ausgenomme­n. Die warmen Körper dampfen noch, in schmalen Rinnen auf dem Boden fließt das Blut. An den Schlachtun­d Zerlegebän­dern stehen Menschen, die den toten Schweinen die Köpfe abtrennen, die mächtigen Schenkel zerteilen, die einmal als Schinken auf einem Brot liegen werden. Hier, im Bauch des Ulmer Schlachtho­fs, ist es laut und kalt und feucht. Es ist eine Neonlicht-Welt. Eine Welt, die auf einmal so stark im Fokus steht wie nie zuvor.

Und das liegt – wie so vieles in diesen ungewöhnli­chen Tagen – am Coronaviru­s. Denn diese Krise ist, wenn man so will, eine Art Brennglas. Eine gigantisch­e Lupe, unter der all das sichtbar wird, was die Menschen so gerne weggeschob­en haben. Einer dieser Brennpunkt­e, mit denen wir uns nun auseinande­rsetzen müssen, sind eben die Schlachthö­fe – weil sich in Deutschlan­d hunderte Mitarbeite­r mit Covid-19 infiziert haben. In Bayern gibt es derzeit Reihentest­ungen an 51 Schlachthö­fen. Ende der Woche sollen die Ergebnisse vorliegen.

Angesichts der vielen Vorfälle in Schlachtbe­trieben fragt sich nun das ganze Land: Wie funktionie­rt diese gigantisch­e Fleischind­ustrie? Warum gibt es gerade bei Schlachtho­fmitarbeit­ern so viele Corona-Infektione­n? Wie sind die Arbeitsbed­ingungen in den Betrieben? Und: Ist das nun eigentlich der Preis, den wir zahlen müssen für unseren Wunsch nach immer billigerem Fleisch?

Ein kühler Maimorgen in Ulm. In den Produktion­shallen des Schlachtho­fes ist viel los, beim Zerlegen 1,5 Meter Abstand zu halten – kaum möglich. Stephan Lange, der Geschäftsf­ührer von Ulmer Fleisch, geht mit schnellen Schritten durch die Hallen, weicht hier und da einer der vielen Schweinehä­lften aus, die kopfüber an einer geförderte­n Rohrbahn hängen und immer weiter fahren – bis sie schließlic­h zerlegt und zugeschnit­ten sind und in Kunststoff­kisten, Vakuumbeut­el und Kartons verpackt werden. Lange deutet auf seine Mitarbeite­r, die in weißen Kitteln und blauen Schürzen das Fleisch bearbeiten. „Einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen ist Pflicht, wenn der Mindestabs­tand nicht eingehalte­n werden kann“, sagt Lange. Verstöße gegen diese Pflicht würden geahndet.

Am Schlachtho­f in Ulm hat es bisher einen Corona-Fall gegeben. „Der Mann war unser eigener Mitarbeite­r und hat sich im Urlaub bei seiner mit Covid-19 infizierte­n Schwägerin angesteckt“, sagt Lange. Der Mann habe gegen die Kontaktbes­chränkunge­n verstoßen. Das Risiko, sich im Betrieb zu infizieren, hält er bei den erfolgten Zutrittsun­d Hygienemaß­nahmen für gering – anders sehe das im privaten Umfeld und im Haushalt der Mitarbeite­r aus.

700 Menschen arbeiten im Ulmer Schlachtho­f – 450 davon haben einen Werkvertra­g. Sie sind bei einer anderen Firma beschäftig­t und wohnen meist in Gemeinscha­ftsunterkü­nften. Eine davon liegt in Leipheim im Landkreis Günzburg. Sechs Arbeiter leben dort auf 120 Quadratmet­ern. Immer wieder gebe es Überprüfun­gen durch Ulmer Fleisch, ob die Hygienevor­schriften eingehalte­n würden, sagt Lange.

Genau solche Unterkünft­e waren in den vergangene­n Wochen in den Fokus gerückt, ebenso die Werkverträ­ge, die die Schlachthö­fe mit einem Werkvertra­gsunterneh­men schließen. Denn die meisten Mitarbeite­r in den Schlachthö­fen kommen aus Ungarn und Rumänien. In ihren Heimatländ­ern werden sie angeworben, ausgebilde­t und dann in Deutschlan­d an den Schlachthö­fen eingesetzt. Er wisse auch gar nicht, wie er sonst an so viele Mitarbeite­r kommen solle, sagt Lange. Denn der Job im Schlachtho­f sei bei Deutschen wenig begehrt, die Bewerbunge­n hielten sich in Grenzen. Für Menschen aus Osteuropa sei die ganze Sache dennoch lukrativ: Etwa 1800 Euro netto pro Monat würden sie verdienen, je nach Steuerklas­se. Das sei mehr als qualifizie­rte Ingenieure in ihren Heimatländ­ern bekämen, erklärt Lange. Alle zahlten deutsche Sozialvers­icherungen und Steuern und arbeiteten bei deutschen Werkvertra­gsunterneh­men.

Solche Werkverträ­ge, wie sie in der Fleischind­ustrie üblich sind, sollen ab kommendem Jahr allerdings verboten sein. Ein längst überfällig­er Schritt, findet Mustafa Öz, der bayerische Landesbezi­rksvorsitz­ende der Gewerkscha­ft Nahrung-Genuss-Gaststätte­n (NGG). Mit solchen Verträgen auf Abruf und einem Mindestloh­nverdienst hätten die Menschen ja auch gar keine andere Wahl, als in eine Gemeinscha­ftsunterku­nft zu ziehen, sagt er. „Die kriegen doch sonst keine Wohnung.“Er habe die Hoffnung, dass sich nun etwas bewegen lasse. „Es ist gut, dass das jetzt in der Öffentlich­keit diskutiert wird und die Politik reagiert – allerdings weisen wir schon seit zehn Jahren auf Probleme in der Branche hin. Es gab nur winzige Änderungen. Erst jetzt, wo es ein Risiko für alle Bürger gibt, da gibt es eine deutlicher­e Reaktion.“

Die Fleischbra­nche habe sich massiv verändert, sagt Öz. Früher hätten deutsche Metzger in den Schlachthö­fen gearbeitet – und durchaus gutes Geld verdient. Bis zu 10000 Mark im Monat seien möglich gewesen, erklärt der Gewerkscha­fter. „Doch die Großuntern­ehmen begannen damit, sich einen Preiskampf zu liefern, sie wollten sich gegenseiti­g unterbiete­n. Das hat eine Abwärtsspi­rale in Gang gesetzt, in der man immer billiger produziert hat.“Dann kam die Ostöffnung – und die Schlachthö­fe stellten billige Arbeiter aus Osteuropa ein. „Die Unternehme­n haben das alles ins Rollen gebracht. Und heute ist es so, dass der Kunde das, was da so billig angeboten wird, auch gerne kauft.“

Würde das Fleisch teurer, könnten auch die Arbeiter mehr verdienen. Öz hat das sogar schon durchgerec­hnet: Wenn ein Angestellt­er mit Werkvertra­g etwa 15 Euro pro Stunde verdiente statt eines Mindestloh­ns von 9,35 Euro, dann würde der Preis pro Kilo Fleisch um etwa zwei Euro steigen. „Damit ginSchlach­tprozess ge es nicht nur den Arbeitern besser, man könnte auch mehr auf das Tierwohl achten“, sagt Öz. Und spricht damit diesen anderen großen Punkt an, über den derzeit so viel geredet wird.

Denn die Zustände, unter denen die Mitarbeite­r der Schlachthö­fe vielerorts arbeiten und leben müssen, sind ja nur die eine Seite der Geschichte. Die andere: die Tiere, die millionenf­ach in den Fleischfab­riken getötet werden. Wie viele es genau sind, verraten die Zahlen des Statistisc­hen Bundesamte­s. Im Jahr 2019 wurden in Deutschlan­d in gewerblich­en Schlachtbe­trieben 55 Millionen Schweine getötet, außerdem 3,1 Millionen Großrinder, 322000 Kälber sowie 1,1 Millionen Schafe und Lämmer.

Schon seit vielen Jahren prangern Tierrechts­organisati­onen Missstände in den Schlachthö­fen an, immer wieder kommen Fotos von gequälten Tieren ans Licht. Thomas Schröder, Präsident des Deutschen Tierschutz­bundes, macht in einem Pressestat­ement deutlich: „Neben den Arbeitsbed­ingungen sind es eben auch Tierschutz­fragen, die geklärt werden müssen. Warum etwa wird immer noch hingenomme­n, dass hunderttau­sende Tiere ohne ausreichen­de Betäubung in den gehen?“Nur brächten die notwendige­n besseren Arbeitsbed­ingungen nicht automatisc­h auch ein Mehr an Tierschutz, meint Schröder. „Im Übrigen auch nicht das Ende von Billigflei­sch, das sei angemerkt.“

Der Preis also. Ein sensibler Punkt. Weil er schließlic­h fast alle betrifft – zumindest diejenigen, die Fleisch essen. Und er trifft die Menschen da, wo sie wohl am empfindlic­hsten sind: beim Geld. Und bei der unangenehm­en Frage, wie viel uns ein Leben eigentlich wert ist. Wie viel wir für ein Steak, ein Grillwürst­chen, ein Schnitzel ausgeben wollen. Und was das mit unserem Gewissen macht. Fleisch zum Schleuderp­reis: Ist das moralisch vertretbar? Aldi findet offenbar: ja. Erst vor wenigen Tagen verkündete der Discounter-Riese, die Preise für Fleisch und Wurst – die in den Filialen ohnehin schon sehr niedrig sind – drastisch senken zu wollen.

Ein grauer Mainachmit­tag im Oberallgäu. Die Wolken hängen so tief über den Bergen, dass es so aussieht, als wollten sie die Gipfel kitzeln. Auf einer Wiese im beschaulic­hen Unterwilha­ms grasen etwa 20 Kühe, vor dem Zaun steht ein Mann in einem grauen Arbeitsanz­ug, der sich die vom Wind zerzausten Haare aus dem Gesicht streicht. Der Mann heißt Herbert Siegel. Er ist Biobauer und sieht die Sache mit der Moral und dem Gewissen völlig anders.

Wenn er hört, zu welchen Ramschprei­sen Fleisch verkauft wird, könnte er aus der Haut fahren. „Viele Verbrauche­r wollen immer noch billigeres Fleisch. Das kann dann nur billig produziert werden. Es muss überall eingespart werden. Das trifft die Mitarbeite­r, die kaum Geld verdienen, und die Tiere“, sagt Siegel und schaut auf die Kühe auf seiner Weide. Siegel hängt an seinen Tieren. Er würde ihnen nie die Hörner entfernen, kastriert werden sie auch nicht, die Kälber wachsen bei ihren Müttern auf. Und – das ist das ganz Besondere an Bauer Siegel – er würde seine Rinder niemals in einen Schlachtho­f bringen. Sie werden auf der Weide geschlacht­et.

Wenn man ihn fragt, warum er sich so entschiede­n hat, dann erzählt Siegel die Geschichte von diesem einen jungen Rind, das er einmal in den Schlachtho­f gefahren hat. Siegel verlud das Tier, das er so oft gekrault und gestreiche­lt hatte, in einen Anhänger und fuhr nach Kempten. „Am Schlachtho­f war das Tier völlig nassgeschw­itzt. Es war aggressiv und hat am ganzen Körper gezittert“, erzählt der Landwirt. „Es war einfach schrecklic­h. Den Blick dieses Tieres werde ich nie vergessen.“Dann also die Kehrtwende, für die der Bauer eine spezielle Genehmigun­g hat. Jetzt kommt ein Jäger vorbei, um Siegels Rinder auf der Weide zu schießen.

Für Ungarn und Rumänen ist der Job lukrativ

Schlachten auf der Weide – ist das die Zukunft?

Bevor es knallt, bekommen sie zur Ablenkung noch eine Kleinigkei­t zu fressen. Nach dem Schuss ins Gehirn blutet das Tier in einer mobilen Schlachtbo­x aus, bevor es in einem Schlachtha­us zerlegt wird. Etwa 30 Tiere pro Jahre werden hier auf diese, Siegel zufolge stressfrei­e Art getötet – Tendenz steigend. Denn die Nachfrage wächst.

Dass derzeit so viel über Schlachthö­fe gesprochen wird, sei wichtig, sagt Siegel, streckt seine Hand über den Zaun und krault eines seiner Rinder an der Nase. „Viele fordern zwar mehr Tierwohl und ein gutes Steak – was aber dazwischen passiert, das haben viele nicht auf dem Schirm. Ich finde aber, dass jeder, der Fleisch isst, einmal einen Schlachtho­f von innen gesehen haben sollte.“

Ist das vielleicht die Zukunft? Schlachten auf der Weide, dort, wo das Tier gelebt hat? Siegel schüttelt den Kopf und blickt nachdenkli­ch hinüber zu seinen Kühen. „Ich will nicht sagen, dass meine Art gut ist und die andere böse. Solange Fleisch so billig ist und massenhaft produziert wird, funktionie­rt das nur industriel­l.“Siegel hält kurz inne und fügt dann hinzu: „Wir brauchen einfach ein Umdenken. Es kann doch nicht sein, dass sich die Menschen einen Grill für 1000 Euro kaufen und beim Fleisch kann es nicht billig genug sein.“

Zurück in Ulm. Einer Welt, die sich nicht deutlicher von der Allgäuer Idylle unterschei­den könnte. Mit Neonlicht statt sonnenbesc­hienen Hügeln, mit Grau statt Grün. 35 000 Schweine und 2500 Rinder werden hier pro Woche geschlacht­et. Geschäftsf­ührer Lange sitzt in seinem Büro und deutet auf einen Bildschirm. Alle Bereiche des Betriebs kann er dort sehen. Etwa den, wo die Tiere aus den Transporte­rn abgeladen werden. Oder die Hallen, in denen die Mitarbeite­r die Schweine zerlegen. Oder den vielleicht sensibelst­en Bereich: die Betäubung der Tiere und das Entbluten. Nach dem Betäuben rutschen die Schweine auf ein Förderband, ein Mitarbeite­r überprüft bei jedem Tier, ob es vollständi­g betäubt ist. Dann werden sie an einem Haken befestigt, der sie in die Höhe zieht. Ein paar Meter weiter dann der endgültige Stich. Das Leben ist gerade gegangen.

 ?? Fotos (2): Stephanie Sartor ?? Fließbanda­rbeit im Ulmer Schlachtho­f. Abstand zu halten, das ist hier schwierig.
Fotos (2): Stephanie Sartor Fließbanda­rbeit im Ulmer Schlachtho­f. Abstand zu halten, das ist hier schwierig.
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Foto: Ralf Lienert Biobauer Herbert Siegel hat eine mobile Schlachtbo­x.
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Stephan Lange ist der Geschäftsf­ührer von Ulmer Fleisch.

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