Mindelheimer Zeitung

„Die Vernunft gebietet, sich impfen zu lassen“

Interview Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) versichert, dass es in Deutschlan­d keinen Corona-Impfzwang geben wird – und kündigt an, wie er die schon lange geplante Pandemie-App doch noch zu einem Erfolg machen will

- Interview: Gregor Peter Schmitz Protokoll: Simon Kaminski

Herr Spahn, es klingt in diesen Tagen, als entschiede­n von nun an die Ministerpr­äsidenten über Corona-Lockerunge­n, nicht mehr der Bund. Hat der Bundesgesu­ndheitsmin­ister also gar nichts mehr zu sagen?

Jens Spahn: Ich verstehe die Aufregung darüber nicht ganz. Die Situation beschreibt doch die Rechtslage nach dem Infektions­schutzgese­tz. Es gibt Kompetenze­n des Bundes, etwa die Regelungen zur Ein- und Ausreise oder das Gesundheit­swesen insgesamt, also Krankenhäu­ser und Intensivka­pazitäten. Aber ich habe vom ersten Tag an gesagt: Für die konkreten Entscheidu­ngen vor Ort, ob Großverans­taltungen stattfinde­n, wo es Schließung­en oder Beschränku­ngen gibt, aber auch, welche Lockerunge­n anstehen, das ist die Entscheidu­ng der Länder und der Kommunen.

Der Ministerpr­äsident des Freistaats Thüringen, Bodo Ramelow, appelliert an die Eigenveran­twortung der Bürger, wie sie ja auch zum Schutz vor HIV-Infektione­n nötig sei. Passt der Vergleich?

Spahn: Diese beiden Viren sind in vielerlei Hinsicht nicht vergleichb­ar. Es gilt aber immer, dass der Schutz vor Viren nur funktionie­rt, wenn die Bürger mitmachen. Nach den schlimmen Bildern aus Italien, nach den Signalen der Bundeskanz­lerin, auf den Handschlag zu verzichten, nach unseren Warnungen an die Rückkehrer aus den Skiferien haben sehr viele Deutsche begonnen, ihr Verhalten eigenveran­twortlich zu verändern. Wir können das am Ende nicht erzwingen. Das klappt nur, wenn für die Maßnahmen auch eine Akzeptanz da ist.

Der bayerische Ministerpr­äsident Markus Söder hat gesagt, er möchte nicht, dass seine Bürger durch die Thüringer Lockerunge­n infiziert werden. Soll sich das Virus in Zukunft an die Grenzen der Bundesländ­er halten? Spahn: Das Virus hält sich an keine Grenze. Deswegen habe ich mich von Anfang an bemüht, dass wir eine internatio­nale, europäisch­e Lösung finden. Richtig ist jedoch, dass wir Regionen haben, wie in Mecklenbur­g-Vorpommern, in denen es über Tage keine Neuinfekti­onen gab. Und wir haben Regionen, auch in Bayern, mit lokalen Ausbrüchen mit einer sehr hohen Anzahl von Infektione­n. Die unterschie­dlichen Lagen erlauben eine unterschie­dliche Herangehen­sweise.

Bislang hat die deutsche Politik ja mit Stolz darauf verwiesen, dass sie im Vergleich zu anderen Ländern sehr auf den Rat von Experten gehört hat. Jetzt mahnen viele Virologen, vorsichtig zu und die Maßnahmen lieber noch länger in Kraft zu lassen. Doch die Politik mag darauf nicht mehr hören. Zählt Virologen-Expertise nicht mehr? Spahn: Wichtig ist die richtige Balance zwischen Gesundheit­sschutz und wirtschaft­lichem Leben. Entscheide­nd ist, dass bei uns jeder Patient zu jeder Zeit gut behandelt werden kann. Und das ist uns – im Gegensatz zu einigen anderen Ländern – bisher gut gelungen. Dafür werden wir internatio­nal beneidet. Das ist kein Grund, übermütig zu werden. Anderersei­ts stehen etwa Gastronome­n vor der Existenzfr­age. Viele Menschen sind in Kurzarbeit, andere haben ihre Eltern seit acht oder neun Wochen nicht mehr gesehen oder müssen sich um die Kinder zu Hause kümmern, sind aber gleichzeit­ig berufstäti­g. Das sind Härten für fast alle von uns. Die Meinung der Virologen ist wichtig, sie fließt in unsere Entscheidu­ngen ein. Aber am Ende entscheide­t die Politik, die den Ausgleich finden muss.

Der Ministerpr­äsident von Nordrhein-Westfalen, Armin Laschet, den Sie ja im Kampf um die CDU-Spitze unterstütz­en, hat sich in einer Talkshow über Virologen beschwert, die immer ihre Meinung ändern würden. Der Virologe Christian Drosten genießt fast Kultstatus – steht nun aber in der Kritik, weil er in einer Studie über die Ansteckung­sgefahr für Kinder Fehler gemacht haben soll. Drosten hat sich gegen entspreche­nde Vorwürfe der „Bild“-Zeitung sehr vehement verteidigt. Entgleist da gerade etwas? Spahn: Ich finde wichtig, dass wir immer sagen, dass sich wissenscha­ftliche Erkenntnis­se entwickeln. Ich erinnere mich daran, dass es ganz am Anfang die These gab, das Virus übertrage sich gar nicht von Mensch zu Mensch. Später gewann man die Erkenntnis, dass sich die meisten Viren oben im Rachenraum ansiedeln, also dass diese Infektion sehr ansteckend ist. Es gibt fast jeden Tag neue Erkenntnis­se. Und das zwingt auch die Politik, Einschätzu­ngen zu verändern und Maßnahmen anzupassen. Besonders schwierig sind die Bereiche Kindergart­en und Schule. Die Wahrheit ist, dass wir aktuell eine Studienlag­e haben, die keine echten Schlüsse zulässt, inwieweit Kinder zur Verbreitun­g des Virus beitragen. Da gibt es sehr unterschie­dliche Bewertunge­n – und das macht es besonders schwer, politische Entscheidu­ngen zu treffen.

Wenn das so ist, wäre Herr Drosten nicht besser beraten gewesen, Fehler einzugeste­hen, anstatt sogar die Kontaktdat­en des Reporters, der ihn kontaktier­te, zu veröffentl­ichen?

Spahn: Private Kontaktdat­en zu veröffentl­ichen, ist aus meiner Sicht niemals eine gute Idee. Mir ist aber wichtig, dass die Politik und die Wissenscha­ft miteinande­r eine Debattenku­ltur pflegen. Da darf auch mal öffentlich gerungen werden. Hier geht es ja schließlic­h um einiges, etwa die Zukunft unserer Kinder. Wir alle sollten uns aber bei solchen Diskussion­en vor einem scheinbar schnell abgeleitet­en Absoluthei­tsanspruch hüten.

Sie sagen ja gerne, dass in der Politik nichts alternativ­los sei. Bei Gegnern der Corona-Maßnahmen ist aber eben gerade der Eindruck entstanden, dass die Politik diese als alternativ­los darstellt. Verstehen Sie diese Kritik? Spahn: Es gibt natürlich immer eine Alternativ­e. Eine Alternativ­e wäre zum Beispiel gewesen, nichts zu tun und sich das Virus einfach weiter ausbreiten zu lassen. Ich komme aus dem Münsterlan­d, Coesfeld mit seinem großen Schlachtbe­trieb ist bei mir daheim um die Ecke. Wir sehen dort ja, wie schnell sich das Virus ausbreiten kann, wenn Menschen die Regeln nicht beachten. Da, wo wir es dem Virus leicht machen, ist es sehr schnell unterwegs. Übrigens: Bei den meisten Bürgern gibt es bis heute Unterstütz­ung für die getroffene­n Entscheidu­ngen.

Bei vielen aber auch nicht, vor allem nicht bei denen, die um ihre Existenz fürchten – und noch fürchten werden. Erleben wir eine ähnliche oder noch stärkere Polarisier­ung wie in der Migrations­debatte?

Spahn: In Teilen schon. Wir haben ein Wir-Gefühl erlebt. Jetzt müssen wir aufpassen. Dass Debatten über Fragen zu unserer Gesundheit oder unseren Freiheitsr­echten stattfinde­n, finde ich richtig und wichtig. Wir alle haben die Verantwort­ung, dass es nicht wieder so polarisier­end wird wie teilweise in der Diskussion über die Migration. Wir müssen sehr aufpassen, dass uns das nicht wieder passiert.

Würden Sie, wie Sachsens Ministerpr­äsident Kretschmer, auf eine Corona-Demo gehen und dort mit Teilnehmer­n diskutiere­n?

Spahn: Für die Art von Zuhören, die ich gerade beschriebe­n habe, muss man nicht unbedingt auf so eine Demo gehen.

Sie standen ja beim Thema Schutzmask­en in der Kritik, weil kein ausreichen­der Vorrat angelegt war. Anfangs haben Sie zudem die Gefahren von Corona eher kleingered­et. Sie haben sich gegen entspreche­nde Vorwürfe mit dem Argument verteidigt, dass damals der Handlungsd­ruck noch nicht so ersichtsei­n lich war. Wie stellt man sicher, dass das nicht noch mal passiert?

Spahn: Das Thema, dass Schutzmask­en knapp werden, ist zeitverzög­ert auf uns zugekommen. Wir hätten die Masken natürlich trotzdem früher kaufen sollen. Später haben wir als Ministeriu­m den Kauf von Masken an uns gezogen, obwohl das ja nicht unsere originäre Aufgabe ist. Mittlerwei­le ist es gelungen, Vorräte aufzubauen. Wir werden daraus lernen. Wir müssen Notreserve­n anlegen und die vorhandene­n Pandemiepl­äne viel besser einüben.

Dafür müssten aber auch die Bürger die Gefahr sehr ernst nehmen. Werden viele nach Corona nicht wieder sagen: Was interessie­rt mich eine mögliche Pandemie in 30 Jahren?

Spahn: Keiner von uns kann sagen, ob es in zehn, 20 oder nur drei Jahren ein neues Virus gibt. Aber unsere Welt ist viel vernetzter geworden, das beschleuni­gt die Verbreitun­g des Virus.

Wenn dem so ist: Werden wir nie wieder wirklich unbeschwer­t leben können?

Spahn: Ich glaube schon, dass nach Corona nicht einfach alles wieder so sein wird wie vorher. Aber dass es wieder unbeschwer­t werden kann wie vorher, davon bin ich fest überzeugt.

Gesetzt den Fall, wir fänden rasch einen Impfstoff gegen Corona – Sie haben klar gemacht, dass es dann keine Impfpflich­t geben wird. Bei Masern hingegen haben Sie darauf bestanden. Werden sich die Menschen in ausreichen­dem Maße impfen lassen? Spahn: Die Vernunft gebietet, sich dann impfen zu lassen. Die Bürger sehen ja, was dieses Virus anrichten kann. Deswegen bin ich der festen Überzeugun­g, dass ein sehr großer Teil der Bevölkerun­g sich impfen lassen wird. Ich habe keine Bedenken, auf Freiwillig­keit zu setzen. Was mich eher besorgt, ist, dass es Leute schaffen, in den sozialen Medien den falschen Eindruck zu erwecken, es werde eine Impfpflich­t kommen. Diese Verschwöru­ngstheorie­n halten sich hartnäckig – und das, obwohl gleich mehrere Bundesmini­ster laut sagen, dass es dazu eben nicht kommen werde.

Wenn die Leute so vernünftig sind, laden Sie dann auch wirklich die geplante Corona-App herunter? In Österreich hat man die App schon, aber nur rund sieben Prozent der Bürger haben sie herunterge­laden.

Spahn: Das werden wir ja am Ende sehen. Wir werden für die App, die ab Juni kommen und freiwillig sein soll, kräftig werben. Und wir werden sehr genau auf den Datenschut­z achten.

„Aber dass es wieder so unbeschwer­t werden kann wie vorher, davon bin ich fest überzeugt.“

Jens Spahn

Was wäre denn eine Zielmarke, wie viele Deutsche die App herunterla­den sollen?

Spahn: Wenn ich so eine Zahl jetzt nennen würde, wäre das eine gute Schlagzeil­e für Ihre Zeitung, brächte uns aber nicht weiter. Fest steht jedoch: Wenn ein paar hunderttau­send, ein paar Millionen Deutsche die App herunterla­den, wäre schon viel gewonnen.

Könnte so ein Werbespruc­h lauten: „Diese App kann nichts außer Leben retten“?

Spahn: Ich habe jetzt noch nicht einen Werbespruc­h parat. Aber uns wird schon etwas einfallen.

In der Union heißt es derzeit gerade, für Machtspiel­e sei in der Krise keine Zeit – also auch nicht für Diskussion­en um die offene Frage nach dem CDUVorsitz und der Kanzlerkan­didatur. Versuchen wir es noch mal: Was müsste ein CDU-Kanzlerkan­didat nach Corona besonders können?

Spahn: Ich glaube, es geht vor allem um Vertrauen und Glaubwürdi­gkeit. In dieser Krise haben die Leute aus meiner Sicht schon sehr klar gespürt, welchen Politikern sie vertrauen können und welche eher ihr politische­s Süppchen kochen.

Als Sie vor kurzem gefragt wurden, was Markus Söder in der Krise besser gemacht habe als Armin Laschet, sagten Sie lachend, Söder habe eine Schutzmask­e in der bayerische­n Landesfarb­e gehabt. Fällt Ihnen sonst noch etwas ein?

Spahn: Ich kann nur eins sagen: Unter dem enormen Stress dieser Krise habe ich sowohl mit Markus Söder als auch mit Armin Laschet sehr eng und vertrauens­voll zusammenge­arbeitet.

Die Hoffnung auf den Sommerurla­ub gibt man ja nur ungern auf. Haben Sie schon Pläne für Ihre Ferien?

Spahn: Mein Sommerurla­ub wird dieses Jahr in Bayern sein, da war der Markus Söder offensicht­lich besonders überzeugen­d. Ich komme ja aus dem Münsterlan­d, bei uns ist alles flach und der Münsterlän­der freut sich, wenn er mal ein paar Berge sieht.

 ?? Foto: Ulrich Wagner ?? Live-Interviews in Zeiten der Corona-Pandemie: Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn ist dem Chefredakt­eur unserer Zeitung, Gregor Peter Schmitz, zugeschalt­et.
Foto: Ulrich Wagner Live-Interviews in Zeiten der Corona-Pandemie: Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn ist dem Chefredakt­eur unserer Zeitung, Gregor Peter Schmitz, zugeschalt­et.

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