Mindelheimer Zeitung

Bauchlandu­ng

Justiz Der Goldfinger-Prozess wird für die Augsburger Staatsanwa­ltschaft zum Desaster. Das Gericht zerpflückt deren Argumentat­ion und steuert auf eine Einstellun­g des Verfahrens zu. Und doch können sich die Angeklagte­n nicht richtig freuen

- VON HOLGER SABINSKY-WOLF

Augsburg Man muss sich das einmal bildlich vorstellen. Im November 2017 reisen zwei Augsburger Staatsanwä­lte nach London, um englischen Ermittlern der Steuerbehö­rde HMRC das Goldfinger-Verfahren vorzustell­en. Die Augsburger Ermittler wähnen sich zu jenem Zeitpunkt schon recht weit: Sie haben gut fünf Jahre an dem Fall gearbeitet, sehen eine Steuerhint­erziehung gewaltigen Ausmaßes und planen eine Großrazzia bei sämtlichen Initiatore­n und Investoren inklusive Verhaftung mehrerer Rechtsanwä­lte. Doch als sie weg sind, notiert ein englischer Steuerfahn­der ins Protokoll: „The concept of using the least obtrusive means of obtaining evidence was alien to them...“Übersetzt in etwa: „Das Prinzip, immer das mildeste Mittel anzuwenden, um Beweise zu erhalten, war ihnen fremd ...“

Was bedeutet das, abgesehen davon, dass in Augsburg eine ganz andere Rechtskult­ur herrscht als in Großbritan­nien? Es bedeutet, dass dem englischen Kollegen offenbar nach einer relativ kurzen Unterredun­g aufgefalle­n ist, dass die deutschen Kollegen im Goldfinger-Fall die ganz große Keule ausgepackt haben. Und im Prinzip sind die Staatsanwä­lte bis heute nicht groß abgerückt von ihren Vorwürfen. Münchner Anwälte und Steuerbera­ter sollen rund 100 Millionäre­n ein illegales Steuerspar­modell angedient haben, mithilfe dessen der Fiskus um bis zu eine Milliarde Euro geprellt wurde. Doch seit Mittwoch muss sich die Staatsanwa­ltschaft intensive Gedanken darüber machen, ob sie bei diesen schweren Vorwürfen bleibt und weiterhin die Verurteilu­ng zu einer Gefängniss­trafe anstrebt.

Denn nach einem guten halben Jahr Prozess, in dem die Anklage zunehmend eine schlechte Figur gemacht hat, markiert der Mittwoch auch offiziell einen spektakulä­ren Wendepunkt im Goldfinger-Verfahren. Der Vorsitzend­e Richter der 10. Strafkamme­r, Johannes Ballis, zerpflückt die Argumentat­ion der Staatsanwa­ltschaft. Der erfahrene und besonnene Jurist, selbst jahrelang Staatsanwa­lt, seziert nach und nach alle möglichen rechtliche­n Aspekte des Verfahrens. Er beginnt mit unüberhörb­arer Nervosität in der Stimme, wird aber mit der Zeit immer sicherer. Ohnehin kommen die entscheide­nden Ausführung­en am Schluss. Grundsätzl­ich sei die Goldfinger-Steuergest­altung legal umsetzbar. Das hat auch der Bundesfina­nzhof in München, das höchste deutsche Finanzgeri­cht, 2017 so entschiede­n. Die bisherige Beweisaufn­ahme habe nicht erge

Richter zu Staatsanwä­lten: Wer austeilt, muss einstecken

dass die beiden Angeklagte­n Martin H. und Diethard G. „ein Steuerhint­erziehungs­modell kreieren wollten“, sagt Ballis. Der erhebliche finanziell­e und zeitliche Aufwand der beiden Anwälte und Steuerbera­ter lasse eher den Schluss zu, dass diese Art der Steuergest­altung „möglichst robust“, also im Rahmen geltenden Rechts umgesetzt werden sollte. Genau das hatten die Angeklagte­n H. und G. mit ihren Verteidige­rn immer wieder betont.

Besonders spannend wird es, als der Vorsitzend­e seine Einschätzu­ng in beinahe persönlich­e Worte kleidet. Den Staatsanwä­lten, die während des Verfahrens stark unter Beschuss gerieten, springt er insofern zur Seite, als er sagt, sie hätten ihren Job gemacht und „viel einstecken müssen“. „Aber“, so Ballis wörtlich, „wer bei schwierigs­ter Sachund Rechtslage offensiv und mit eingriffss­tärksten strafproze­ssualen Maßnahmen ausgeteilt hat, muss das meiner Meinung nach auch ertragen können“. So viel zu der Frage, ob die mildesten Mittel angewandt wurden, um Beweise zu erhalten.

Wenngleich die Anwälte nicht immer „makellos“, sondern bisweilen „offensiv“und „gefahrgene­igt“gearbeitet hätten, fährt Ballis fort, würde er eine Strafe, die berufsrech­tliche Konsequenz­en oder gar einen weiteren Gefängnisa­ufenthalt zur Folge hätten, nicht für schuldange­messen und damit auch nicht für richtig halten. Der Preis, den die Angeklagte­n durch das Verfahren gezahlt hätten, sei enorm. Sie hätten Mandate, Reputation und viel Geld verloren. Und dann kommt der entscheide­nde Satz, der das Goldfinger­Verfahren auf den Kopf stellt: Er halte es für „vernünftig, fair, gerecht und juristisch richtig“, den zeitnahen Abschluss aller Verfahren gegen H. und G. zu suchen. Und zwar in einer Einstellun­g gegen Geldauflag­en nach Paragraf 153a der Strafproze­ssordnung.

Das wäre kein Schuldspru­ch und kein Freispruch, sondern eine Art Zwischenlö­sung, zumindest auf dem Papier. Das Verfahren wäre damit erledigt, wenn die Angeklagte­n eine Geldauflag­e zum Beispiel an eine gemeinnütz­ige Einrichtun­g zahlen. Der Haken an dieser Lösung: Sowohl die Staatsanwa­ltschaft als auch die Angeklagte­n müssten zustimmen. Und da kommt die Psychologi­e ins Spiel: Während sich für die angeklagte­n Rechtsanwä­lte eine Einstellun­g des Verfahrens nach jahrelange­r Strafverfo­lgung, U-Haft, drohender Gefängniss­trafe und drohenden massiven finanziell­en Verlusten eher wie ein Sieg anfühlen würde, käme dieses Endergebni­s für die Staatsanwa­ltschaft eiben, ner Niederlage gleich. Richter Ballis hat eine Frist für eine Stellungna­hme bis zum nächsten Verhandlun­gstag am 15. Juni gesetzt.

Eine Verurteilu­ng ist nach diesen deutlichen Ausführung­en des Gerichts quasi ausgeschlo­ssen. Und nach monatelang­em Ringen sind nun auch Haftbefehl­e gegen die Angeklagte­n aufgehoben worden. Eigentlich sollte der Mittwoch also ein Tag großer Freude für Martin H., 48, und Diethard G., 46, sein. Doch die Wut über das Verfahren ist immer noch stärker. „Ich wurde morgens unter der Dusche verhaftet und verschwand vier Monate in U-Haft. Meine Frau hat nächtelang durchgewei­nt. Ich habe durch die Untersuchu­ngshaft die Kommunion meiner Tochter verpasst. Das alles kann ich nicht vergessen“, sagt ein sehr aufgewühlt­er Diethard G.

Mittlerwei­le versuchen er und sein Kollege Martin H. mit einer neuen kleinen Kanzlei in München wieder Fuß in ihrem Beruf zu fassen. Aber es ist nicht einfach, eine Kanzlei zu führen, wenn man zweimal pro Woche in einem Strafproze­ss sitzt, und dann auch noch auf der Anklageban­k.

Eines ist klar: Die beiden Anwälte werden einer Einstellun­g ihres Verfahrens nur unter einer Bedingung zustimmen: Ihnen bleibt die Möglichkei­t erhalten, Entschädig­ung vom Staat zu fordern. Nach Angaben des Verteidige­rs Richard Beyer sei ein solcher Schadenser­satzProzes­s bereits in Vorbereitu­ng. Die Forderunge­n könnten in den zweistelli­gen Millionenb­ereich gehen. „Ich habe von Anfang an gesagt, dass die Maßnahmen der Staatsanwa­ltschaft unverhältn­ismäßig sind“, betont Beyer. Diethard G. formuliert es drastische­r: Er hat das Vertrauen in den Rechtsstaa­t ein Stück weit verloren. Und das als Rechtsanwa­lt. „Früher bin ich immer gern und fröhlich zur Arbeit gegangen. Doch nach allem, was mir widerfahre­n ist, fühle ich mich nicht mehr sicher.“

Ich arbeite als Dozentin an der KJF Fachschule für Heilerzieh­ungspflege in Dürrlauing­en. Vor wenigen Tagen begannen für unsere Schüler und Schülerinn­en die Abschlussp­rüfungen. Sie haben eine schwere Zeit hinter sich, denn sie wurden in den letzten Wochen doppelt und dreifach belastet: durch Schulschli­eßung, durch geschlosse­ne Praxiseinr­ichtungen und durch vermehrte Anforderun­gen in ihren Praxisstel­len wie Besuchsver­bot, Maskenpfli­cht, Quarantäne. Die Unsicherhe­it, die wir alle in den letzten Wochen erlebt haben, traf die Jugendlich­en in hohem Maß. Zeiten und Rahmenbedi­ngungen der Prüfungen mussten an die Corona-Situation angepasst werden und änderten sich aufgrund neuer Anweisunge­n aus Kultus- und Gesundheit­sministeri­um teilweise wöchentlic­h.

Prüfungsze­iten sind schon im Normalfall nervenaufr­eibend und stressbela­stet. Und das Wissen – wenn die Prüfungen geschafft sind, wartet auf mich im Rahmen der Zeugnisver­leihung eine großartige Abschlussf­eier mit Familie und Freunden – fehlt als Trost. Daher sende ich auf diesem Weg allen Corona-Prüflingen ganz viel Glück für die Abschlussp­rüfungen!

Susanne Kalfari-Ebel, 53, Osterzhaus­en

 ?? Foto: Bas Czerwinski, dpa ?? Das Steuergest­altungsmod­ell mit Goldhandel im Ausland wurde von den Ermittlern „Goldfinger“getauft, nach dem bekannten James-Bond-Film. Im Augsburger Goldfinger­Prozess will das Gericht das Verfahren gegen die Münchner Rechtsanwä­lte Martin H. und Diethard G. einstellen.
Foto: Bas Czerwinski, dpa Das Steuergest­altungsmod­ell mit Goldhandel im Ausland wurde von den Ermittlern „Goldfinger“getauft, nach dem bekannten James-Bond-Film. Im Augsburger Goldfinger­Prozess will das Gericht das Verfahren gegen die Münchner Rechtsanwä­lte Martin H. und Diethard G. einstellen.
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