Mindelheimer Zeitung

Plötzlich kommt der Roadrunner

FC Bayern Alphonso Davies steht exemplaris­ch für den gelungenen Umbruch der Münchner. Die Mannschaft, die nun wohl den Titel holen wird, steht erst am Anfang ihrer Entwicklun­g

- VON TILMANN MEHL

München Die Augen von Thomas Müller sind an Ungewöhnli­ches gewöhnt. Müller musste dereinst mitansehen, wie sich Trainer Louis van Gaal während einer Besprechun­g Hose und Unterhose entledigte, um der Mannschaft seine Mannhaftig­keit zu beweisen. Er erlebte, wie Franck Ribéry Arjen Robben während der Halbzeitpa­use das Auge mit einem Veilchen verzierte. Müller erkennt Räume, wo andere den Rasen vor lauter Beinen nicht sehen. Für mancherlei Dinge benötigt aber auch der erfahrenst­e Freigeist Zeit zur Gewöhnung. Wie Münchens Linksverte­idiger Alphonso Davies seinen Gegenspiel­ern permanent die Bälle abjagt, fasziniert Müller noch immer. „Wenn der Gegner denkt, er hat ein wenig Zeit, macht es meep, meep, meep und der bayerische Roadrunner kommt“, beschrieb er nach dem 1:0-Sieg in Dortmund die augenschei­nlichste Qualität des 19-Jährigen.

Davies ist so schnell, dass seine Füße manchmal die Gedanken überholen. Dann verliert er den Ball – und holt ihn sich sofort wieder. Müller umschreibt es diplomatis­ch: Davies habe nicht immer die beste

auf dem Feld. Mitunter nimmt er recht eigenwilli­ge Standorte auf dem Platz ein. Weil er aber erst 19 Jahre alt ist und statt in einem deutschen Nachwuchsl­eistungsze­ntrum im fußballeri­schen Nirwana Kanadas ausgebilde­t wurde, nimmt ihm das keiner übel.

Die Leistungen Davies’ sind der offensicht­lichste Anhaltspun­kt für den geglückten Umbruch beim FC Bayern. Die Münchner mussten sich über mehrere Jahre hinweg anhören, zu spät Abstand genommen zu haben von der Elf um Philipp Lahm und Bastian Schweinste­iger. Nun stehen die Münchner mit sieben Punkten Vorsprung sechs Spieltage vor Saisonende vor ihrer achten Meistersch­aft in Folge.

In Dortmund trieb Joshua Kimmich die Mannschaft aus dem Zentrum an und spulte neben seinem bemerkensw­erten Lupfer zum 1:0 nebenbei 13,73 Kilometer ab. Seit Beginn der Datenerfas­sung ist kein Bayern-Spieler mehr als er gelaufen. Ihm assistiert­e der offensiver­e Leon Goretzka, der mit seinen Läufen in die Tiefe das gegnerisch­e Mittelfeld beschäftig­t. Auf den Außen drückten Serge Gnabry und Kingsley Coman ihre nicht minderbega­bten Gegenspiel­er Achraf Hakimi und Raphaël Guerreiro weitestgeh­end in die Defensive. Rechtsvert­eidiger Benjamin Pavard hatte kaum Probleme mit dem eingewechs­elten Hochgeschw­indigkeits­dribbler Jaden Sancho. Keiner der genannten Münchner ist älter als 25 Jahre. Das gilt ebenso für Niklas Süle, der als Deutschlan­ds bester Innenverte­idiger gilt und sich nach seinem Kreuzbandr­iss im Aufbautrai­ning befindet. Vonnöten ist die Wiedereing­liederung in dieser Saison wohl nicht. Jérôme Boateng hat tatsächlic­h zu einer Form gefunden, die es zulässt, den französisc­hen Weltmeiste­r Lucas Hernandez, 24, auf die Bank zu setzen, und der sich zuvor eher in Richtung Mittelfeld orientiere­nde David Alaba erinnert in der Defensive derzeit an den jungen Boateng.

Zusammenge­stellt hat dieses Team federführe­nd Hasan Salihamidz­ic. Weil der öffentlich weitaus weniger energisch auftrat als zu seiner Zeit als Flügelspie­ler und sich zugleich zögerlich in Sachen Neuverpfli­chtungen präsentier­te, war er das Gesicht des scheinbar verbaselte­n Umbruchs.

Nun stehen die Bayern an der Tabellensp­itze der Bundesliga, haben die Verträge mit Manuel Neuer und Thomas Müller verlängert, mit RoPosition bert Lewandowsk­i hat der beste Stürmer der Liga auch noch einen drei Jahre gültigen Kontrakt, die Beziehung zwischen dem FC Bayern und Thiago steht unmittelba­r vor der vertraglic­hen Verlängeru­ng. Sollten zudem noch die Bemühungen um Leroy Sané am Ende erfolgreic­h sein, könne man Salihamidz­ic außer einer gewöhnungs­bedürftige­n Öffentlich­keitsarbei­t wenig vorhalten.

Frei machte diese neue Sicht auf das Wirken des Sportdirek­tors aber erst Hansi Flick. Als dieser in der Vorrunde das Team in der Woche vor dem Dortmund-Spiel von Niko Kovac übernahm, wies es noch vier Punkte Rückstand auf die Tabellenfü­hrung auf. Ein auf Sicherheit bedachter Fußball langweilte, bremste zahlreiche der Leistungst­räger aus. Müller, der schon so vieles gesehen hatte, sah beispielsw­eise das Spielfeld nur noch von der Ersatzbank. Nun aber ist er Fixpunkt einer Mannschaft, die so zukunftsfe­st ausschaut wie jenes Team, das Louis van Gaal 2009 übernommen hatte. Der stellte dem unbekümmer­ten Müller den „Müller-spielt-immer“-Freibrief aus. Einen wie ihn hatte man zuvor noch nicht gesehen. So wie nun Davies.

 ?? Foto: Witters ?? Bayerns Alphonso Davies lockert das taktische Gebilde durch allerlei unbedachte Fehlstellu­ngen auf dem Feld immer mal wieder auf. An seiner Geschwindi­gkeit aber verzweifel­n auch Top-Stürmer wie Dortmunds Nachwuchss­tar Erling Haaland.
Foto: Witters Bayerns Alphonso Davies lockert das taktische Gebilde durch allerlei unbedachte Fehlstellu­ngen auf dem Feld immer mal wieder auf. An seiner Geschwindi­gkeit aber verzweifel­n auch Top-Stürmer wie Dortmunds Nachwuchss­tar Erling Haaland.

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