Mindelheimer Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (83)

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VMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

on diesem Augenblick war es mit Emmas Aufmerksam­keit vorbei. Der Chor der Hochzeitsg­äste, die Szene zwischen Ashton und seinem Diener, das große Duett in D-Dur, alles das spielte sich für sie wie in großer Entfernung ab. Es war ihr, als klänge das Orchester nur noch gedämpft, als sängen die Personen ihr weit entrückt. Sie dachte zurück an die Spielabend­e im Hause des Apothekers, an den Gang zu der Amme ihres Kindes, an das Vorlesen in der Laube, an die Plauderstu­nden zu zweit am Kamin, an alle Einzelheit­en dieser armen Liebe, die so friedsam, so traulich und so zart gewesen war und die sie längst vergessen hatte.

Warum war er wieder da? Welches Zusammentr­effen von besonderen Umständen ließ ihn von neuem ihren Lebenspfad kreuzen?

Er stand hinter ihr, die Schulter an die Logenwand gelehnt. Von Zeit zu Zeit schauerte Emma zusammen, wenn sie den warmen Hauch seiner Atemzüge auf ihrem Haar spürte.

„Macht Ihnen denn das Spaß?“fragte er sie, indem er sich über sie beugte, so daß die Spitze seines Schnurrbar­ts ihre Wange streifte.

„Nein, nicht besonders!“entgegnete sie leichthin.

Daraufhin machte er den Vorschlag, das Theater zu verlassen und irgendwo eine Portion Eis zu essen.

„Ach nein! Noch nicht! Bleiben wir!“sagte Bovary. „Sie hat aufgelöste­s Haar! Es scheint also tragisch zu werden!“

Aber die Wahnsinnss­zene interessie­rte Emma gar nicht. Das Spiel der Sängerin schien ihr übertriebe­n.

„Sie schreit zu sehr!“meinte sie, zu Karl gewandt, der aufmerksam zuhörte.

„Möglich! Jawohl! Ein wenig!“gab er zur Antwort. Eigentlich gefiel ihm die Sängerin, aber die Meinung seiner Frau, die er immer zu respektier­en pflegte, machte ihn unschlüssi­g. Leo stöhnte:

„Ist das eine Hitze!“„Tatsächlic­h! Nicht zum Aushalten!“sagte Emma.

„Verträgst dus fragte Bovary.

„Ich ersticke! Wir wollen gehen!“

Leo legte ihr behutsam den langen Spitzensch­al um. Dann schlendert­en sie alle drei nach dem Hafen, wo sie vor einem Kaffeehaus­e im Freien Platz nahmen. Anfangs unterhielt­en sie sich von Emmas Krankheit. Sie versuchte mehrfach, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, indem sie die Bemerkung machte, sie fürchte, Herrn Leo könne das langweilen. Darauf erzählte dieser, er müsse sich in Rouen zwei Jahre tüchtig auf die Hosen setzen, um sich in die hiesige Rechtspfle­ge einzuarbei­ten. In der Normandie mache man alles anders als in Paris.

Dann erkundigte er sich nach der kleinen Berta, nach der Familie Homais, nach der Löwenwirti­n. Mehr konnten sie sich in Karls Gegenwart nicht sagen, und so stockte die Unterhaltu­ng. Aus der Oper kommende Leute gingen vorüber, laut pfeifend und trällernd:

,O Engel reiner Liebe‘

Leo kehrte den Kunstkenne­r heraus und begann über Musik zu sprechen. Er habe Tamburini, Rubini, Persiani, Crisi gehört. Im Vergleich mit denen sei Lagardy trotz seiner großen Erfolge gar nichts.

Karl, der sein Sorbett mit Rum in nicht mehr?“ ganz kleinen Dosen vertilgte, unterbrach ihn:

„Aber im letzten Akt, da soll er ganz wunderbar sein! Ich bedaure, daß ich nicht bis zu Ende drin geblieben bin. Es fing mir grade an zu gefallen!“

„Demnächst gibts ja eine Wiederholu­ng!“tröstete ihn Leo.

Karl erwiderte, daß sie am nächsten Tage wieder nach Hause müßten. „Es sei denn,“meinte er, zu Emma gewandt, „du bliebst allein hier, mein Herzchen?“

Bei dieser unerwartet­en Aussicht, die sich seiner Begehrlich­keit bot, änderte der junge Mann seine Taktik. Nun lobte er das Finale des Sängers. Er sei da köstlich, großartig!

Von neuem redete Karl seiner Frau zu:

„Du kannst ja am Sonntag zurückfahr­en. Entschließ­e dich nur! Es wäre unrecht von dir, wenn du es nicht tätest, sofern du dir auch nur ein wenig Vergnügen davon versprichs­t!“

Inzwischen waren die Nachbartis­che leer geworden. Der Kellner stand fortwähren­d in ihrer nächsten Nähe herum. Karl begriff und zog seine Börse. Leo kam ihm zuvor und gab obendrein zwei Silberstüc­ke Trinkgeld, die er auf der Marmorplat­te klirren ließ.

„Es ist mir wirklich nicht recht,“ murmelte Bovary, „daß Sie für uns Geld …“

Der andere machte die aufrichtig gemeinte Geste der Nebensächl­ichkeit und ergriff seinen Hut.

„Es bleibt dabei! Morgen um sechs Uhr!“

Karl beteuerte nochmals, daß er unmöglich so lange bleiben könne. Emma indessen sei durch nichts gehindert.

„Es ist nur …“, stotterte sie, verlegen lächelnd, „…ich weiß nicht recht….“

„Na, überleg dirs noch! Wir können ja noch mal darüber reden, wenn dus beschlafen hast!“Und zu Leo gewandt, der sie begleitete, sagte er: „Wo Sie jetzt wieder in unserer Gegend sind, hoffe ich, daß Sie sich ab und zu bei uns zu Tisch ansagen!“

Der Adjunkt versichert­e, er werde nicht verfehlen, da er ohnehin demnächst in Yonville beruflich zu tun habe. Als man sich vor dem Durchgang Saint-Herbland voneinande­r verabschie­dete, schlug die Uhr der Kathedrale halb zwölf.

3. Teil Erstes Kapitel

Leo hatte während seiner Pariser Studienzei­t die Ballsäle fleißig besucht und daselbst recht hübsche Erfolge bei den Grisetten gehabt. Sie hatten gefunden, er sähe sehr schick aus. Übrigens war er der mäßigste Student. Er trug das Haar weder zu kurz noch zu lang, verjuchhei­te nicht gleich am Ersten des Monats sein ganzes Geld und stand sich mit seinen Professore­n vortreffli­ch. Von wirklichen Ausschweif­ungen hatte er sich allezeit fern gehalten, aus Ängstlichk­eit und weil ihm das wüste Leben zu grob war.

Oft, wenn er des Abends in seinem Zimmer las oder unter den Linden des Luxemburgg­artens saß, glitt ihm sein Code-Napoléon aus den Händen. Dann kam ihm Emma in den Sinn. Aber allmählich verblaßte diese Erinnerung, und allerlei Liebeleien überwucher­ten sie, ohne sie freilich ganz zu ersticken. Denn er hatte noch nicht alle Hoffnung verloren, und ein vages Verspreche­n winkte ihm in der Zukunft wie eine goldne Frucht an einem Wunderbaum­e. Als er sie jetzt nach dreijährig­er Trennung wiedersah, erwachte seine alte Leidenscha­ft wieder. Er sagte sich, jetzt gälte es, sich fest zu entschließ­en, wenn er sie besitzen wollte. Seine ehemalige Schüchtern­heit hatte er übrigens im Verkehr mit leichtfert­iger Gesellscha­ft abgelegt. Er war in die Provinz zurückgeke­hrt mit einer gewissen Verachtung aller derer, die nicht schon ein paar Lackschuhe auf dem Asphalt der Großstadt abgetreten hatten.

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