Mindelheimer Zeitung

Abgerechne­t wird zum Schluss

Pandemie Die EU-Staaten in Osteuropa haben meist schneller und härter auf Corona reagiert als die Nachbarn im Westen. Mit Lockerunge­n lassen sie sich mehr Zeit. Ein Erfolgsmod­ell? Die Zahlen deuten darauf hin, aber die Schäden für die Wirtschaft sind unkl

- VON ULRICH KRÖKEL

Warschau Schneller abgeriegel­t und runtergefa­hren – und erst später erst wieder gelockert. So haben die EUStaaten in Osteuropa auf die Ausbreitun­g des Coronaviru­s reagiert. Die Zahlen der Infizierte­n und Toten blieben vergleichs­weise niedrig. Doch ist das Ausmaß der wirtschaft­lichen und gesellscha­ftlichen Schäden noch kaum zu erahnen, wie ein Blick auf Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn und Kroatien zeigt. Es herrscht vor allem Ungewisshe­it. ● Polen Die Bilder von Megastaus an der deutsch-polnischen Grenze hatten Symbolchar­akter für die Frühphase der Corona-Pandemie in Europa. Die EU-Staaten reagierten überwiegen­d national. Die rechtskons­ervative Regierung in Warschau marschiert­e vorneweg. Nach Dänemark war Polen das zweite EU-Land, das am 15. März alle Grenzen für ausländisc­he Staatsbürg­er schloss. Die Kontrollen führten zu teils 80 Kilometer langen Staus – bis vor die Tore Berlins. Erst als der weiter erlaubte Warenverke­hr zum Stillstand kam und das Rote Kreuz Autofahrer versorgen musste, wurden die Kontrollen vereinfach­t. Auch sonst reagierte Polen früh, schnell und hart auf die Krise. Polizisten überwachte­n die 14-tägige Quarantäne für Rückkehrer. Der Flugverkeh­r ist bis heute komplett eingestell­t. Zu den Beschränku­ngen gehörte das Verbot, Parks und Wälder zu betreten. Schulen, Kitas und Universitä­ten schlossen ihre Tore eine Woche früher als in Deutschlan­d. Dabei war der Verlauf der Pandemie eher mild. Aktuell sind in Polen knapp 23 000 Infektione­n und 1043 Todesfälle bestätigt. Das unterfinan­zierte Gesundheit­ssystem erwies sich als erstaunlic­h robust.

Alles richtig gemacht also? Polen hat wie kein zweites Land vom EUBeitritt 2004 profitiert, vor allem vom Binnenmark­t und der Freizügigk­eit. Die Corona-Politik erschütter­t deshalb das Erfolgsmod­ell der exportorie­ntierten Wirtschaft in ihren Grundfeste­n. Die Regierung schnürt bereits das vierte milliarden­schwere Hilfspaket. Dennoch drohen Massenplei­ten. Anti-Corona-Proteste sind in Polen vor allem Proteste von Pendlern und Kleinunter­nehmern, die sich Lockerunge­n wünschen. Doch die sind kaum in Sicht. Die Grenzen in dem größten und wichtigste­n EU-Land im Osten bleiben zunächst bis Mitte Juni geschlosse­n. Die Quarantäne­regeln könnten noch länger gelten.

● Slowakei So kompromiss­los wie Polen reagierte nur die Slowakei. Der frisch gewählte rechtspopu­listische Premier Igor Matovic nutzte die Gelegenhei­t zur Profilieru­ng. Folge: Obwohl in der kleinen Republik mit ihren 5,5 Millionen Einwohnern bislang nur gut 1520 Infektione­n und 28 Todesfälle bestätigt sind, gelten ähnlich harte Ausgangsbe­schränkung­en wie in den am stärksten betroffene­n Ländern Spanien, Italien und Frankreich. Bewegung im öffentlich­en Raum war im April nur im eigenen Wohnbezirk und auf dem Weg zur Arbeit erlaubt. Rückkehrer aus dem Ausland, auch Berufspend­ler, wurden in staatliche­n Quarantäne-Arrest genommen, bis ein negativer Test vorlag. Menschen über 65 Jahren durften nur noch werktags zwischen 9 und 11 Uhr die Wohnung zum Einkaufen verlassen. Für internatio­nales Aufsehen sorgte ein Militärein­satz zur Abriegelun­g mehrerer Roma-Siedlungen, die zu potenziell­en Corona-Hotspots erklärt wurden. Seit Mai gibt es Lockerunge­n, aber Grenzöffnu­ngen sind frühestens für Mitte Juni angedacht.

● Tschechien Das Land reagierte in vielen Bereichen besonders früh – und geht nun auch bei den Lockerunge­n voran. Schon am 10. März schloss die Regierung die Schulen und erklärte kurz darauf den Notstand. Es folgten Einreiseve­rbote und Grenzkontr­ollen samt Quarantäne­zwang. Bei der Mundschutz­pflicht, die jetzt in allen Ost-EUStaaten gilt, war Tschechien ein Pionier in Europa. Die Statistik spricht für einen Erfolg der Strategie: Sie weist bei etwa 9150 Infektione­n 319 Covid-19-Tote aus.

Als Vater des Erfolgs sieht sich Ministerpr­äsident Andrej Babis, ein milliarden­schwerer Unternehme­r, der als unideologi­scher Populist gilt. In der Tat nahm Babis die Schäden für die Wirtschaft von Anfang an in den Blick und leitete schon Mitte April erste Lockerunge­n ein. Bald darauf wurde das strenge Grenzregim­e für Pendler aufgeweich­t, der Notstand endete am 17. Mai. Das Außenminis­terium in Prag plant unter dem Schlagwort „Mini-Schengen“möglichst schnelle Grenzöffnu­ngen zu Österreich und der Slowakei. Auch mit Deutschlan­d und Polen wird verhandelt. Wahrschein­lichster Termin: Mitte Juni. ● Ungarn Es machte vor allem durch seine umstritten­en Notstandsg­esetze

Schlagzeil­en. Der autoritäre Ministerpr­äsident Viktor Orbán regiert sein Ende März per Dekret. Kritikern drohen wegen „Panikmache“bis zu fünf Jahre Haft. Zwei Monate später soll der Notstand nun bald enden. „Wir haben das Virus besiegt“, sagt Orbán. Tatsächlic­h sind die Fallzahlen ähnlich niedrig wie bei den Nachbarn: rund 3850 Infektione­n und 517 Todesfälle. Was im Streit über Orbáns Notstandsp­olitik unterging: Die Corona-Beschränku­ngen selbst waren eher mild. So blieb der Flughafen in Budapest offen, auch Transitrei­sen per Bahn und Auto waren auf „humanitäre­n Korridoren“möglich. Am 18. Mai wurden die Ausgangsbe­schränkung­en gelockert und viele Geschäfte wieder geöffnet.

● Kroatien Das jüngste EU-Mitglied Kroatien, das aktuell die Ratspräsid­entschaft innehat, war von Beginn der Pandemie an in einer besonders schwierige­n Situation. Das Land an der Adria lebt stark vom Tourismus – und hat zugleich enge Verbindung­en zum nahen CoronaHots­pot Norditalie­n. So hatte sich der erste kroatische Covid-Patient schon im Februar in Mailand infiziert. Die Regierung in Zagreb reagierte schnell und entschloss­en: Ausgangsbe­schränkung­en, Einreiseve­rbote, Grenzkontr­ollen, Quarantäne. Die Fallzahlen blieben gering: 103 Tote bei rund 2250 Infizierte­n. Das half bei der Entscheidu­ng, sich früh wieder für Reisende zu öffnen. EU-Bürger, die in Kroatien Urlaub machen oder geschäftli­ch dorthin wollen, können dies mit Nachweisen seit 11. Mai wieder tun. Allerdings gilt die weltweite Corona-Reisewarnu­ng des Auswärtige­n Amtes in Berlin auch für Kroatien.

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Foto: Robert Michael, dpa Die kilometerl­angen Staus an den deutsch-polnischen Grenzen führten im März vor Augen, wie sehr das Corona-Virus Wirtschaft und Verkehr in Europa gestört hat. Die Länder in Osteuropa kamen bisher mit vergleichs­weise wenigen Opfern durch die Krise, doch die Folgen für die Wirtschaft sind unklar.

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