Mindelheimer Zeitung

Gewalt gegen Politiker

Gedenken Vor einem Jahr wurde Kassels Regierungs­präsident Walter Lübcke ermordet. Die Tat rückte Gewalt von rechts und Hass im Netz in den Fokus. Warum ein Demokratie­forscher die aggressive Stimmung in der Pandemie mit Sorge betrachtet

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Kassel Rechtsextr­eme Gewalt, Hass im Netz, Übergriffe auf Politiker – die Ermordung des nordhessis­chen Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke hat viele Facetten. Vor einem Jahr wurde der CDU-Politiker erschossen. Die Bluttat elektrisie­rte erst als Kriminalfa­ll die Republik. Doch als Hintergrün­de ans Licht kamen, wurde er zum Thema in der Politik, der Fall beschleuni­gte die Debatte über politisch motivierte Gewalt. Und dann kam die CoronaPand­emie, die nun das Gedenken an Lübcke überschatt­et. Der 65-Jährige war in der Nacht zum 2. Juni 2019 auf der Terrasse seines Wohnhauses im Kreis Kassel mit einem Kopfschuss getötet worden. Rund zehn Monate später hat die Bundesanwa­ltschaft gegen den mutmaßlich­en Mörder, Stephan E., Anklage erhoben. Auslöser der Tat sollen Äußerungen Lübckes zur Aufnahme von Flüchtling­en gewesen sein. Die Ermittler gehen von einer rechtsextr­emistische­n Motivation aus.

Wenn sich der Todestag Lübckes nun jährt, wird es weder Großdemons­trationen gegen Rechts noch öffentlich­e Gedenkvera­nstaltunge­n geben. Angesichts von Kontaktver­bot und Hygienereg­eln wurde vieles abgesagt oder verschoben. Das Regierungs­präsidium Kassel – Lübckes Behörde – verzichtet auf ein öffentlich­es Gedenken ebenso wie die Stadt Kassel. Die Hessische Staatskanz­lei kündigte eine Kranzniede­rlegung an – unter Ausschluss der Öffentlich­keit. Das „Kasseler Bündnis gegen hatte nach dem Mord zehntausen­d Menschen für Demonstrat­ionen mobilisier­t – angesichts der Corona-Pandemie halten sich die Initiatore­n nun ebenfalls zurück. Sie rufen dazu auf, am Jahrestag Blumen vor dem Regierungs­präsidium niederzule­gen. Zudem erinnert seit Donnerstag ein 200 Quadratmet­er großes Banner an der Front des Kasseler Regierungs­präsidiums an Lübcke. Es trägt die Aufschrift „Demokratis­che Werte sind unsterblic­h.“

Die Pandemie behindert nicht nur das Gedenken. Demokratie­forscher Reiner Becker sieht auch neues Potenzial für Bedrohunge­n und Übergriffe auf Kommunalpo­litiker. „Das Thema Corona-Krise bietet sich stark an, um Angriffe zu rechtferti­gen“, erklärte der Leiter des Demokratie­zentrums in Marburg. Wenn die Strategie zur Bewältigun­g der Pandemie mehr und mehr vom Bund über die Länder auf die Kommunen übertragen werde (um so lokale Ausbrüche gezielter bekämpfen zu können), stünden die Entscheidu­ngsträger vor Ort vor schwerwieg­enden Fragen – und könnten zur Zielscheib­e werden. „Insgesamt befürchte ich eine Spaltung und Polarisier­ung der Gesellscha­ft mit Blick auf die politisch Verantwort­lichen wie in den Jahren 2015/2016 bei der Aufnahme von Flüchtling­en“, sagt Becker. Eine Befürchtun­g, wie sie auch Gesundheit­sminister Jens Spahn diese Woche im Gespräch mit unserer Redaktion geäußert hatte.

Bisher gebe es, laut Demokratie­forscher Becker, konkrete Bedrohunge­n noch nicht. Man könne aber solche Tendenzen in der allgemeine­n Stimmungsl­age erkennen, in der auch Verschwöru­ngstheorie­n an Bedeutung gewinnen würden. Das

Thema „Bedrohung von Kommunalpo­litikern“war nach dem Mord an Lübcke ins öffentlich­e Bewusstsei­n gerückt. Denn der Regierungs­präsident hatte Morddrohun­gen erhalten, nachdem er sich 2015 bei einer Bürgervers­ammlung für die Aufnahme von Flüchtling­en eingesetzt hatte. Das soll nach Ansicht von Ermittlern auch ein Grund gewesen sein, der E. zu dem Mord beRechts“ wegte. Ob und wann gegen ihn am Oberlandes­gericht Frankfurt verhandelt wird, ist noch offen.

Die Bluttat setzte eine Debatte über die Bekämpfung von rechtsextr­emen Strukturen in Gang, Ermittlung­sbehörden erhöhten den Druck. So gründete Hessen nach dem Mord eine spezielle Ermittlung­sgruppe, die mit 140 Ermittlern die rechte Szene untersucht und überwacht. Über 80 Durchsuchu­ngen, 2000 Sicherstel­lungen, mehr als 1200 Kontrollen seien Ergebnisse der monatelang­en Arbeit, sagt Hessens Innenminis­ter Peter Beuth. Angesichts des Hasses, der Lübcke selbst nach seinem Tod im Internet entgegensc­hlug, stehen Postings im Fokus: Über eine neue Meldestell­e können rassistisc­he Äußerungen an Polizei, Verfassung­sschutz und Justiz gemeldet werden. 1300 Meldungen seien geprüft, 339 an die Zentralste­lle zur Bekämpfung der Internetkr­iminalität in Frankfurt weitergege­ben worden. Ein Rückgang rechter Straftaten ist aber nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Das Landeskrim­inalamt Hessen registrier­te in den sechs Monaten nach dem Lübcke-Mord 424 Fälle – im Vergleich zu 284 im Vorjahresz­eitraum. Auch die bayerische Staatsregi­erung hat reagiert: Der „Hate-Speech-Beauftragt­e“KlausDiete­r Hartleb berichtete vor wenigen Tagen, dass im Freistaat im ersten Quartal 2020 bereits rund 400 Ermittlung­sverfahren wegen rechtsradi­kaler Äußerungen eingeleite­t wurden. Und Bundesinne­nminister Horst Seehofer wies auf die „Bedrohung von rechts“in dieser Woche bei der Vorlage der jährlichen Kriminalst­atistik hin.

Die Pandemie verändert die rechte Szene: Rechtsextr­eme mischten sich auf Corona-Demos mit Gruppierun­gen wie Verschwöru­ngstheoret­ikern und Menschen, die für Grundrecht­e demonstrie­rten, sagt Demokratie­forscher Becker. Die klassische­n rechtsextr­emen Parteien seien aktiv, erzielten aber keine größere Reichweite. „Die Quantität ist auch nicht so wichtig, sondern das selbstbewu­sste Auftreten in der Öffentlich­keit.“

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 ?? Foto: dpa ?? Ein Banner erinnert an der Fassade des Regierungs­präsidiums in Kassel an den vor einem Jahr ermordeten CDU-Politiker Walter Lübcke.
Foto: dpa Ein Banner erinnert an der Fassade des Regierungs­präsidiums in Kassel an den vor einem Jahr ermordeten CDU-Politiker Walter Lübcke.
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Walter Lübcke

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