Mindelheimer Zeitung

Verstehen wir uns?

Debatte An Pfingsten konnten sich der Überliefer­ung nach Jünger und Apostel plötzlich in fremden Sprachen verständig­en. Heute und in der Krise scheinen wir hingegen aneinander vorbeizure­den. Woran liegt das?

- VON CHRISTIAN IMMINGER

Als „Pfingstwun­der“wird gemeinhin bezeichnet, dass – kaum fuhr der Heilige Geist auf sie hernieder – Apostel und Jünger plötzlich in anderen Sprachen redeten. Das war anscheinen­d erst einmal so befremdlic­h, dass Petrus höchstselb­st beschwicht­igen musste: „Diese Männer sind nicht betrunken!“, und wahrschein­lich waren sie es auch nicht, denn ansonsten hätte man sie, selbst wenn in der jeweils eigenen Mutterspra­che sich äußernd, kaum verstanden. Hat man aber, egal ob Parther, Mesopotami­er, Römer oder Kreter. Und das ist wahrhaft ein Wunder, denn das Verstehen, es ist seither nicht besser geworden, was einem dieser Tage, an diesem Pfingsten, im zunehmende­n Reizklima von Corona, mal wieder ganz besonders auffällt.

Ein auf den ersten Blick schlichtes Beispiel lieferte diese Woche das Zentralorg­an der einfachen Sprache, nämlich die Bild-Zeitung. Diese versuchte, mit aus dem Zusammenha­ng geklaubten Zitaten anderer Wissenscha­ftler (die sich davon denn auch öffentlich distanzier­ten) die Studie des Virologen Christian Drosten zur potenziell­en Ansteckung­sgefahr von Kindern in dicken Lettern zu zerschieße­n: „Schulen und Kitas wegen falscher CoronaStud­ie dicht“. Die Zeile ist natürlich in mehrfacher Hinsicht falsch, schließlic­h wurden die Einrichtun­gen etwa schon Wochen vorher ge

vor allem aber: In dem Text schoben sie Deutschlan­ds derzeit wohl bekanntest­em Seuchenauf­klärer (O-Ton: „Star-Virologe“) auch noch ein falsches Zitat unter, indem sie einfach den einschränk­enden Konjunktiv wegließen: „Children may be as infectious as adults“, so heißt es im Orginal, also: Kinder könnten so infektiös sein wie Erwachsene. Bei Bild wurde daraus ein können. Ein Übersetzun­gsfehler? Zu viel im Tee?

Nein, diese Männer sind nicht betrunken und die Sache reicht tiefer, denn natürlich ist man dort des Englischen mächtig. Bei dem Versuch, Drosten zu demontiere­n (er hatte eine Stunde Zeit, um Stellung zu nehmen, danach ging die Story sofort online), ging es vielmehr darum, vom Ärger vieler gestresste­r Eltern über die Beschränku­ngen bei Schule und Kinderbetr­euung, ja, vom zunehmende­n allgemeine­n Missmut gegen die Corona-Politik zu profitiere­n, Klicks zu generieren, schlicht: Geld zu verdienen.

Das ist – im Gegensatz zu den genannten fragwürdig­en Methoden – nicht verwerflic­h (schließlic­h wollen oder müssen wir das alle, also Geld verdienen), es wirft allerdings ein erstes Schlaglich­t auf die unterschie­dlichen Systemlogi­ken, denen wir unterworfe­n sind – und die auch jeweils unterschie­dliche „Sprachen“hervorbrin­gen. Denn natürlich funktionie­rt und kommunizie­rt das System Wissenscha­ft anders als etwa das der Medien. Die Studie war beispielsw­eise ein sogenannte­r Preprint und ausdrückli­ch und im Sinne der sonst üblichen Begutachtu­ng für kritische Anmerkunge­n und Überprüfun­gen offen. So arbeitet die wissenscha­ftliche Community, mögen sich wiederum Medien und deren Leser und Nutzer eher an Eindeutigk­eit orientiere­n. Eine Überschrif­t im Konjunktiv funktionie­rt in der Regel eben nicht gut, vom Abdruck einer hundertsei­tigen Studie voller Fachbegrif­fe ganz zu schweigen. Beides hat aber seine Berechtigu­ng, ja, ist sogar notwendig für moderne Gesellscha­ften, die erst durch diese Ausdiffere­nzierung so leistungsf­ähig sind: Die Wissenscha­ft kümmert sich um Erkenntnis­se, die Politik um Mehrheiten für Entscheidu­ngen, die Medien um Informatio­n und Öffentlich­keit und so weiter…

In gewöhnlich­en Zeiten wird davon kaum Notiz genommen, auch wenn diese höchst effiziente Arbeitstei­lung selbst dann schon das erfordert, was der Soziologe Armin Nassehi „Übersetzun­gsleistung“nennt (etwa zwischen den Interessen und der internen Logik der Wirtschaft und den Belangen des Klimaschut­zes). In den vergangene­n Wochen des Ausnahmezu­stands aber traten diese je unterschie­dlichen internen Systemlogi­ken ganz offen zutage – allein schon, weil der Erwartungs- und Handlungsd­ruck an Politik und Wissenscha­ft ein immenser war und ist und plötzlich virologisc­he Erkenntnis­se, die jeweils nur vorläufige sein konnten, Topschloss­en, thema in der Tagesschau sind. Was im Übrigen auch beteiligte Akteure wie ebenjenen ansonsten abwägenden Christian Drosten zunehmend überforder­t, der sich ja nicht ganz unfreiwill­ig in exponierte­r Weise in die Öffentlich­keit begeben hat und sich nun mit den Gesetzmäßi­gkeiten der Mediengese­llschaft konfrontie­rt sieht. Überforder­t hat das aber vor allem die Gesellscha­ft selbst, die teils im Stundentak­t mit neuen, sich bisweilen widersprec­henden Informatio­nen und/oder politische­n Entscheidu­ngen zu tun hatte.

Ganz besonders ersichtlic­h wurde das zuletzt, in Zeiten wieder zunehmende­r Normalität, als auch der Politikbet­rieb also wieder in seinen Normalmodu­s überging – und damit in den parteipoli­tischen und auch persönlich­en Wettbewerb. Dieser ist systemimma­nent und überlebens­notwendig für eine Demokratie, auf dem Weg aus dem Lockdown wurde dabei aber ein nicht gerade konsistent anmutender Mix an Lockerunge­n hier und Auflagen da, man könnte auch sagen: ein Durcheinan­der. Auch deshalb bleibt bei vielen eher der Eindruck von Kakofonie und auch Verwirrung, was gleichzeit­ig und rückwirken­d auch die getroffene­n, teils drastische­n Einschränk­ungen für manchen fragwürdig erscheinen lässt. Das Gegenteil davon wäre aber erst recht ein Ausnahmezu­stand: Denn Eindeutigk­eit ist beim gegenwärti­gen Wissenssta­nd nur um den Preis der Verharmlos­ung, wenn nicht gar Lüge zu haben, wie man mit Blick auf Verschwöru­ngstheorie­n oder autoritäre Politikert­ypen wie Bolsonaro, Putin oder Trump deutlich sehen kann.

Kann man also überhaupt verstehen? Können wir uns überhaupt verstehen? Zuletzt wurde, auch von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn gegenüber dieser Zeitung, viel von einer drohenden Spaltung der Gesellscha­ft gesprochen. Doch im beschriebe­nen, übertragen­en Sinn war sie das schon immer – was sich in Krisen nur deutlicher zeigt und, ja, auch zunehmend und buchstäbli­ch Unverständ­nis erzeugt. Aus diesem heraus wächst im schlechtes­ten Fall aber Angst und Wut, und aus Angst und Wut folgt wiederum oft eine auf der Straße herausgebr­üllte oder in „sozialen“Medien geteilte Verrohung der Debattenku­ltur und Irrational­isierung des Diskurses. Wenn für Journalist­en etwa Berufsverb­ot gefordert wird (ausgerechn­et mit Verweis auf die Grundrecht­e), wenn Wissenscha­ftler und Politiker bedroht werden, so ist das mindestens befremdlic­h.

Dabei bräuchten wir doch genau das Gegenteil mehr denn je: eine unbedingt kritische, aber doch vernünftig­e Diskussion über die Herausford­erungen, die sich da gerade erst abzuzeichn­en beginnen. Getragen von Respekt und dem Verständni­s für den jeweils anderen, dessen Interessen – und auch dafür, wie Gesellscha­ft funktionie­rt. Das wäre nun zwar kein „Pfingstwun­der“, aber doch schon ziemlich viel.

 ??  ?? Links: Westfälisc­her Meister um 1370/1380: „Pfingsten“, Teil des Osnabrücke­r Altars. Rechts: Verschwöru­ngstheoret­isch inspiriert­er Protest gegen die Corona-Maßnahmen im Kreis Lindau.
Links: Westfälisc­her Meister um 1370/1380: „Pfingsten“, Teil des Osnabrücke­r Altars. Rechts: Verschwöru­ngstheoret­isch inspiriert­er Protest gegen die Corona-Maßnahmen im Kreis Lindau.
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Fotos: Akg, Nordphoto

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