Mindelheimer Zeitung

Gustave Flaubert: Frau Bovary (85)

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IMadame Bovary sieht gut aus – und ist lebenshung­rig. Doch das Dorf, in dem sie mit ihrem Mann lebt, kann ihr nicht bieten, was sie sich wünscht. Sie verstrickt sich in Schulden und Lügen, die erst ihr zum Verhängnis werden – und nach ihrem Tod auch noch Mann und Tochter. © Projekt Gutenberg

st doch die Sprache immer ein Walzwerk, das die Gefühle breitdrück­t.

Bei dem Märchen von der Reisedecke fragte sie:

„Warum denn?“„Warum?“Er zögerte. „Weil ich Sie so zärtlich geliebt habe!“

Froh, die größte Schwierigk­eit überwunden zu haben, beobachtet­e Leo Emmas Gesicht von der Seite. Es leuchtete wie der Himmel, wenn der Wind plötzlich eine Wolkenschi­cht, die darüber war, zerreißt. Die vielen traurigen Gedanken, die es verdunkelt hatten, waren aus ihren Augen wie weggeweht. Er wartete. Endlich sagte sie: „Ich hab es immer geahnt…“Nun begannen sie von den kleinen Begebnisse­n jener fernen Tage einander zu erzählen, von allem Freud und Leid, das sie soeben in ein einziges Wort zusammenge­faßt hatten. Er erinnerte sich der Wiege aus Tannenholz, ihrer Kleider, der Möbel in ihrem Zimmer, ihres ganzen Hauses.

„Und unsere armen Kakteen, was machen die?“

„Sie sind letzten Winter alle erfroren!“

„Ach, wie oft hab ich an sie zurückgeda­cht. Das glauben Sie mir gar nicht! Wie oft hab ich sie vor mir gesehen, wie damals im Sommer, wenn die Morgensonn­e auf Ihre Jalousien schien… und Sie mit bloßen Armen Ihre Blumen begossen …“

„Armer Freund.“sagte sie und reichte ihm ihre Hand.

Leo beeilte sich, seine Lippen darauf zu pressen. Dann seufzte er tief auf und sagte:

„Damals übten Sie einen geheimnisv­ollen Zauber auf mich aus. Ich war ganz in Ihrem Banne. Einmal zum Beispiel kam ich zu Ihnen… aber Sie werden sich wohl nicht mehr daran erinnern?“„Doch, fahren Sie nur fort!“„Sie standen unten in der Hausflur, wo die Treppe aufhört, gerade im Begriff auszugehen. Sie hatten einen Hut mit kleinen blauen Blumen auf. Ohne daß Sie mich dazu aufgeforde­rt hatten, begleitete ich Sie. Ich konnte nicht anders. Aber mir jeder Minute trat es mir klarer ins Bewußtsein, wie ungezogen das von mir war. Ängstlich und unsicher ging ich neben Ihnen her und brachte es doch nicht über mich, mich von Ihnen zu trennen. Wenn Sie in einen Laden traten, wartete ich draußen auf der Straße und sah Ihnen durch das Schaufenst­er zu, wie Sie die Handschuhe abstreifte­n und das Geld auf den Ladentisch legten. Zuletzt klingelten Sie bei Frau Tüvache; man öffnete Ihnen, und ich stand wie ein begossener Pudel vor der mächtigen Haustüre, die hinter Ihnen ins Schloß gefallen war.“

Frau Bovary hörte ihm zu, ganz verwundert. Wie lange war das schon her! Alle diese Dinge, die aus der Vergessenh­eit heraufstie­gen, erweckten in ihr das Gefühl, eine alte Frau zu sein. Unendlich viele innere Erlebnisse lagen dazwischen. Ab und zu sagte sie mit leiser Stimme und halbgeschl­ossenen Lidern:

„Ja… So war es… So war es… So war es!“

Von den verschiede­nen Uhren der Stadt schlug es acht, von den Uhren der Schulen, Kirchen und verlassene­n Paläste. Sie sprachen nicht mehr, aber sie sahen einander an und spürten dabei ein Brausen in ihren Köpfen, und jeder hatte das Gefühl, dieses Rauschen ströme aus den starren Augenstern­en des anderen. Ihre Hände hatten sich gefunden, und Vergangenh­eit und Zukunft, Erinnerung und Träume, alles ward eins mir der zärtlichen Wonne des Augenblick­s. Die Dämmerung dichtete sich an den Wänden, und halb im Dunkel verloren, schimmerte­n nur noch die grellen Farbenflec­ke von vier dahängende­n Buntdrucke­n. Durch das oben offene Fenster erblickte man zwischen spitzen Dachgiebel­n ein Stück des schwarzen Himmels.

Emma erhob sich, um die Kerzen in den beiden Leuchtern auf der Kommode anzuzünden. Dann setzte sie sich wieder.

„Was ich sagen wollte…“, begann Leo von neuem.

„Was war es?“

Er suchte nach Worten, um die unterbroch­ene Unterhaltu­ng wieder anzuknüpfe­n, da fragte sie ihn:

„Wie kommt es, daß mir noch niemand solche innere Erlebnisse anvertraut hat?“

Leo erwiderte, ideale Naturen fänden selten Wahlverwan­dte. Er habe sie vorn ersten Augenblick­e an geliebt, und der Gedanke bringe ihn zur Verzweiflu­ng, daß sie miteinande­r für immerdar verbunden worden wären, wenn ein guter Stern sie früher zusammenge­führt hätte.

„Ich habe manchmal dasselbe gedacht“, sagte sie.

„Welch ein schöner Traum!“murmelte Leo. Und während er mit der Hand über den blauen Saum der Schleife ihres weißen Gürtels hinstrich, fügte er hinzu: „Aber was hindert uns denn, von vorn anzufangen?“

„Nein, mein Freund“, erwiderte sie. „Dazu bin ich zu alt… und Sie zu jung … Vergessen Sie mich! Andre werden Sie lieben … und Sie werden sie wieder lieben!“„Nicht so, wie ich Sie liebe!“„Sie sind ein Kind! Seien Sie vernünftig. Ich will es!“

Sie setzte ihm auseinande­r, daß Liebe zwischen ihnen ein Ding der Unmöglichk­eit sei und daß sie sich nur wie Schwester und Bruder lieben könnten, wie ehemals.

Ob sie das wirklich im Ernst sagte, das wußte sie selbst nicht. Sie fühlte nur, wie sie der Verführung zu unterliege­n drohte und daß sie dagegen ankämpfen müsse. Sie sah Leo zärtlich an und stieß sanft seine zitternden Hände zurück, die sie schüchtern zu liebkosen versuchten.

„Seien Sie mir nicht bös!“sagte er und wich zurück.

Emma empfand eine unbestimmt­e Furcht vor seiner Zaghaftigk­eit, die ihr viel gefährlich­er war als die Kühnheit Rudolfs, wenn er mit ausgebreit­eten Armen auf sie zugekommen war. Niemals war ihr ein Mann so schön erschienen. In seinem Wesen

lag eine köstliche Keuschheit. Seine Augen mit den langen, feinen, ein wenig aufwärtsge­bogenen Wimpern waren halb geschlosse­n. Die zarte Haut seiner Wangen war rot geworden, aus Verlangen nach ihr, wie sie glaubte, und sie vermochte dem Drange kaum zu widerstehe­n, sie mit ihren Lippen zu berühren. Da fiel ihr Blick auf die Wanduhr.

„Mein Gott, wie spät es schon ist!“rief sie aus. „Wir haben uns verplauder­t!“

Er verstand den Wink und suchte nach seinem Hut.

„Das Theater habe ich ganz vergessen“, fuhr Emma fort. „Und mein armer Mann hat mich doch deshalb nur hiergelass­en. Herr und Frau Lormeaux aus der Großenbrüc­kenstraße wollten mich begleiten …“

Schade! Denn morgen müsse sie wieder zu Hause sein.

„So?“fragte Leo. „Gewiß!“

„Aber ich muß Sie noch einmal sehen. Ich hab Ihnen noch etwas zu sagen!“

„Was denn?“

„Etwas… Wichtiges, Ernstes! Ach, Sie dürfen noch nicht heimfahren! Nein! Das ist unmöglich! Wenn Sie wüßten… Hören Sie mich doch an… Sie haben mich doch verstanden? Ahnen Sie denn nicht …“

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