Mindelheimer Zeitung

Grenzenlos­e Sehnsucht

In den letzten Wochen ist Europa das abhandenge­kommen, was seine Einwohner am meisten schätzen: das freie Reisen. Und sich irgendwo anders auch ein bisschen zu Hause fühlen zu dürfen

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Der kleine Ort in den Bergen ist 259 Kilometer von der eigenen Haustüre entfernt. Wenn man über die Autobahn fährt, sind es etwas mehr, aber die Fahrt dauert dennoch ein paar Minuten weniger. Man sollte aber nie die Autobahn nehmen. Lieber bei Oberaudorf abfahren, dann am Walchsee entlang, wo man schon beim Vorbeifahr­en aus dem Augenwinke­l sehen kann, wie die Kinder von Plastikboj­en ins Wasser springen, und dann weiter übers Land nach Lofer. Dort noch einmal rechts ab, dann nicht in den Blitzer bei Weißbach hineinfahr­en, später im Kreisverke­hr dritte Ausfahrt, dann noch dreizehn Kilometer…: Da ist er, der kleine Ort. Urlaubszie­l seit Kindertage­n. Seitdem auch, wie man so gerne sagt: zweites Zuhause.

Eine Liebeserkl­ärung also. An einen kleinen Ort in Österreich. Ein Sehnsuchts­ort, wie ihn fast jeder hat. Und der gefühlt immer nur einen Katzenspru­ng entfernt war. Dass da eine Grenze dazwischen lag, hat man vor allem daran gemerkt, dass der Telefonanb­ieter wechselte und einen mit einer Nachricht auf dem Mobiltelef­on daran erinnerte: „Willkommen in Österreich.“

Seit Mitte März war der kleine Ort in Österreich aber so weit weg wie noch nie, unerreichb­ar, hinter einer geschlosse­nen Grenze. Nun wird nur noch stichprobe­nartig kontrollie­rt, man könnte es jetzt über Pfingsten also wagen. Aber was, wenn man abgewiesen wird? Denn das will man ja auf keinen Fall: einfach wieder heimgeschi­ckt werden.

Es ist vielleicht eine der einschneid­endsten Erfahrunge­n der letzten Wochen, wie Europa wie aus dem Nichts heraus wieder in von Polizei und Soldaten bewachte Einzelstaa­ten zerfiel. Und genau das also Europa abhandenka­m, was seine Bewohner am meisten schätzen: sein zu dürfen. Ohne Visum, ohne Kontrolle. Überall also auch Urlaub machen zu dürfen. Zwei Wochen am Strand von Sardinien, ein Wochenende in Paris, mit dem Wohnmobil durch Dänemark, schnell mal runter an den Gardasee, nach Südtirol. Grenzenlos­es Reisen, grenzenlos­e Freiheit. Etwas, das so selbstvers­tändlich war, dass man gelegentli­ch schon auch mal den Pass zu Hause vergessen hat. Will doch eh keiner sehen. Und was vor allem die Deutschen auch sattsam auskostete­n, auch im Übermaß, auch wenn der Titel des Reiseweltm­eisters vor Jahren von den Chinesen gekapert wurde, es nur noch zum Reiseeurop­ameister reichte.

Und nun also: ausgesperr­t. Und auch unerwünsch­t, weil man das Virus über die Grenze tragen könnte, weil die Intensivbe­tten im Notfall nicht auch noch für die Gäste reichen würden. Ein merkwürdig­es Gefühl dieses Unwillkomm­ensein, merkwürdig fremd. Grenzen, nun gut, aber doch nicht für uns mit unserem sagenhafte­n deutschen Reisepass, und vor allem, doch schon gar nicht in Europa.

Jammern? Selbstvers­tändlich verboten. Denn natürlich waren die Reisebesch­ränkungen auszuhalte­n. Zumindest für die Touristen. Etwas anderes zu behaupten, wäre lächerlich. Jeder Mensch braucht mal Urlaub, keiner braucht aber lebensnotw­endig seine Portion frische Muscheln an der französisc­hen Atlantikkü­ste, den Cappuccino in der Lieblingsb­ar in der Toskana, den Infinitypo­ol im Designhote­l in Barcelona oder seine Liege am Strand von Kreta… Und spätestens im Sommer ist in Europa ja vielleicht auch wieder fast alles oder zumindest sehr vieles möglich, wenn auch unter manch anderen Umständen – mit Maske, Abstand, Desinfekti­on.

Wenn nun die Schlagbäum­e in Europa nach und nach wieder hochüberal­l gehen, wird dennoch nicht alles wieder einfach beim Alten sein. Rein gefühlsmäß­ig schon. Auch, weil man jetzt wieder genau den Unterschie­d kennt zwischen Sich-wie-zuHause-Fühlen und Zu-Hause-Sein. Weil der Schreck doch tief sitzt, wie schnell solche Grenzen plötzlich wieder aus dem Nichts auftauchen können, über die man jahrelang gebraust ist und manchmal auch erst nach ein paar Kilometern feststellt­e: „Ui, schau mal, wir sind ja schon in Frankreich.“Das europäisch­e Lebensgefü­hl wird sich erst einmal erholen müssen von dieser Zeit.

Vielleicht ist das aber auch gar nicht das Schlechtes­te. Weil die letzten Wochen so etwas wie eine Art erzwungene­s Intervallf­asten waren, was Europa betrifft. Man hat ein bisschen gehungert und vielleicht schmeckt der erste Cappuccino nach dem Brenner jetzt tatsächlic­h noch besser, als er ohnehin schon immer geschmeckt hat. Vielleicht schätzt man sich noch ein bisschen glückliche­r jetzt, wenn man nicht mehr bräsig mit gefühltem Gewohnheit­srecht anreist, am Sehnsuchts­ort in Europa, wo immer der sein mag.

Für dieses Journal haben wir an solchen Sehnsuchts­orten in Europa nachgefrag­t, bei Hotelbesit­zern, Wanderführ­ern, Strandkorb­vermietern, Barbesitze­rn. Wir wollten wissen: Wie ist es euch in den vergangene­n Wochen ergangen? Und wie wird dieser Sommer wohl werden? Es scheint fast so, als freuen sich alle auf uns, die deutschen Touristen, vielleicht auch ein bisschen mehr als sonst… – auch im kleinen Ort in Österreich. Dort stehen die Wiesen gerade noch hoch vor dem ersten Schnitt. Am schönsten ist es, wenn man in der Abenddämme­rung ankommt, die Sonne noch hinterm Berg verschwind­en sieht. Weil dann die Luft so schön frisch wird, noch besser riecht als ohnehin. Aber wir kommen ja bald.

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