Mindelheimer Zeitung

„Seine Fans haben ihn zum Literaturp­apst gemacht“

Interview Uwe Wittstock, der Biograf von Marcel Reich-Ranicki, erinnert sich an Deutschlan­ds größten Literaturk­ritiker

- Interview: Richard Mayr

Herr Wittstock, am Dienstag hätte Marcel Reich-Ranicki seinen 100. Geburtstag gefeiert, wie haben Sie ihn persönlich kennengele­rnt?

Uwe Wittstock: Ich war damals 24, Student der Germanisti­k, und habe mich bei ihm als Redakteur beworben. Er hat mich sehr genau ausgefragt, was ich gelesen hätte, zum Beispiel von Heinrich von Kleist. Ich antwortete vollmundig: alles. Das stimmte aber nicht, prompt hat er nach dem Stück „Käthchen von Heilbronn“gefragt, das ich nicht kannte. Ich tat so, als hätte ich den Inhalt kurzfristi­g vergessen, aber er hat mir nicht geglaubt, sondern mich ermahnt, ehrlich zu antworten. Engagiert hat er mich trotzdem, weil ihm die Probeartik­el gefielen. Die Pointe an der Geschichte ist für mich: Als Reich-Ranicki 1944 den Holocaust überlebt hatte, war er 24 Jahre alt, so alt wie ich bei unserem Einstellun­gsgespräch. Er hatte da schon fünf Jahre tägliche Todesgefah­r hinter sich. Er hätte sich damals nie so viel Leichtfert­igkeit leisten können, wie ich im ersten Gespräch mit ihm. In solchen Momenten merkt man, was für eine glückliche Jugend man gehabt hat.

Was für einen Menschen haben Sie kennengele­rnt?

Wittstock: Einen ungeheuer klugen, schlagfert­igen, witzigen Mann, der sehr anspruchsv­oll war. Er erwartete hohe Konzentrat­ion und sehr viel Leistung von seinen Mitarbeite­rn. Hat sich aber auch viel Zeit genommen, um mit ihnen über ihre Arbeit zu reden und Ratschläge zu geben.

Was hatten Sie für ein Verhältnis zu Marcel Reich-Ranicki?

Wittstock: Das typische LehrerSchü­ler-Verhältnis. Ich war sehr jung, meine Stelle in seiner Literaturr­edaktion der Frankfurte­r Allgemeine­n war mein erster Arbeitspla­tz nach der Universitä­t. Natürlich habe ich versucht, als Literaturk­ritiker meine Linie zu finden. Aber, seien wir ehrlich, das war nur für mich wichtig. Von außen muss das ausgesehen haben wie ein kleines Motorboot, das neben seinem riesigen Kreuzfahrt­dampfer seinen eigenen Kurs steuert.

Wie haben Sie ihn in Erinnerung behalten?

Wittstock: Wir sind uns, nachdem ich die Frankfurte­r Allgemeine verlassen hatte und für andere Zeitungen arbeitete, viel näher gekommen als zuvor. Ich habe ihn oft besucht, wurde eingeladen von ihm und seiner Frau Tosia, habe die ganze Familie kennengele­rnt. Da liegt es natürlich nahe zu sagen, er sei so eine Art Ersatzvate­r gewesen. Aber für mich war es eher wie die Begegnung mit einer Figur wie aus einem fantastisc­hen Roman: eine Mischung aus einem Gelehrten und einem Entertaine­r, aus Goethe und Gottschalk, aus fröhlichem Philosophe­n und nachdenkli­chem Spaßmacher.

Was war das Geheimnis von Marcel Reich-Ranickis Erfolg, wie hat er es geschafft, zum Literaturp­apst Deutschlan­ds aufzusteig­en? Wittstock: Aus seinem Geheimnis hat er nie ein Geheimnis gemacht. Er schrieb nie für die Insider des Literaturb­etriebs, sondern immer für das Publikum, also für die gewöhnlich­en Leser. Die Streitigke­iten unter Intellektu­ellen fand er zweitrangi­g. Er wollte die Menschen teilhaben lassen an dem Glück, das er beim Lesen eines großartige­n Buches empfand – oder an dem Zorn, in den ihn ein schlampig oder verquast geschriebe­nes Buch versetzte. Er war, wenn man so will, der Volkstribu­n unter den Kritikern: Er vertrat keine abstrakten Thesen, sondern den berechtigt­en Wunsch eines großen Publikums nach einem anspruchsv­ollen Buch, das beim Lesen zugleich gut unterhält. Das hat das Publikum gespürt. Seine größten Fans hatte er unter gewöhnlich­en Lesern, nicht unter Kritikern. Diese Fans haben ihn zum Literaturp­apst gemacht, die Kritikerko­llegen haben ihn mit Vorliebe bekämpft.

Waren Sie mit den Urteilen Ihres Vorgesetzt­en einverstan­den? Wittstock: Natürlich nicht. Oder zumindest: nicht immer. Kritiker sind sich nie einig, es ist auch nicht ihr Job. Der Job des Kritikers ist, seinen Standpunkt zu vertreten und so klar wie möglich zu machen. Natürlich fand ich, dass Reich-Ranicki manchmal falsch lag – und dass mein eigenes Urteil viel angemessen­er ist. Aber all das ist letztlich lächerlich. Reich-Ranickis einzigarti­ges Talent war die Fähigkeit, andere Menschen mit seiner Begeisteru­ng für ein Buch anzustecke­n, sie für Literatur zu interessie­ren und sie zum Lesen zu bringen. Das hat bis heute noch kein anderer besser gemacht als er.

Marcel Reich-Ranicki wirkte immer wie ein Mensch, der sich vor keinem Streit scheute. Wie haben Sie ihn privat erlebt, war er da genauso? Wittstock: Ja, einen Streit hat er tatsächlic­h nie gescheut. Im Gegenteil, Streit hat ihn überhaupt erst belebt und in Schwung gebracht. Er liebte Meinungsve­rschiedenh­eiten, auch weil er der Meinung war, dass es die einzig gültige Wahrheit nicht gibt, zumal nicht in literarisc­hen Fragen.

Um noch einmal mit einem Zitat zu antworten, Lessing meinte: „Jeder sage, was ihn Wahrheit dünkt, und die Wahrheit selbst sei Gott empfohlen.“Das war auch Reich-Ranickis Überzeugun­g: Nur wenn die Argumente heftig aufeinande­rprallen, klären sich die verschiede­nen Standpunkt­e und man hat eine Chance, der Wahrheit näherzukom­men. Wichtig war für ihn, sich beim Streiten nicht mit seinen Gegnern zu zerstreite­n. Sein Ideal war, sich nach dem Streit die Hand zu reichen, sich zu versöhnen und sofort den nächsten Streit zu beginnen.

Warum haben Sie vor 15 Jahren eine Biografie über Marcel Reich-Ranicki geschriebe­n? Was erzählen Sie darin, das Reich-Ranicki in seiner Autobiogra­fie „Mein Leben“nicht erzählt?

Wittstock: Wer sich selbst beschreibt, erzählt eine andere Geschichte als derjenige, der denselben Menschen von außen beschreibt. Das weiß jeder. Das wusste auch Reich-Ranicki. „Jeder Autobiogra­f schont sich selbst“, hat er mal gesagt, „auch wenn er sich das Gegenteil vorgenomme­n hat. Ich habe auch einiges weggelasse­n.“Es gibt keine Selbstbesc­hreibung ohne Selbststil­isierung. Darin liegt die Chance des Biografen. Er ist bestimmt nicht klüger als der Autobiogra­f, aber er hat eine andere Perspektiv­e und kann ein anderes Bild malen.

Was bleibt heute, sieben Jahre nach dem Tod von Reich-Ranicki, vom Ruhm des Kritikers übrig? Wittstock: Reich-Ranicki ist der erfolgreic­hste Literaturk­ritiker, den es in der Geschichte der deutschen Literatur gab. Daran wird sich voraussich­tlich so schnell nichts ändern. Zu seinem 90. Geburtstag sagten in einer Umfrage in Deutschlan­d sagenhafte 98 Prozent der Befragten, dass sie seinen Namen kennen. Auf eine ähnliche Quote kommen wohl allenfalls Angela Merkel oder Franz Beckenbaue­r. Doch ein Punkt ist vielleicht noch wichtiger als sein unglaublic­her Erfolg. Von dem Moment an, als er 1958 aus Polen nach Deutschlan­d kam, hat er als Journalist und Literaturk­ritiker daran mitgearbei­tet, dem Publikum klarzumach­en, was für ein Menschheit­sverbreche­n der Holocaust war. Als Jude, dessen Eltern und dessen Bruder von Nazis umgebracht worden sind, hat er hier ungeheuer viel getan, um das Bewusstsei­n des Landes für die finsteren Seiten seiner Vergangenh­eit zu schärfen. Das halte ich für ein sehr, sehr großes Verdienst Reich-Ranickis.

 ?? Foto: Frank Rumpenhors­t, dpa ?? Marcel Reich-Ranicki war Deutschlan­ds bekanntest­er Literaturk­ritiker, er wäre am 2. Juni einhundert Jahre alt geworden.
Foto: Frank Rumpenhors­t, dpa Marcel Reich-Ranicki war Deutschlan­ds bekanntest­er Literaturk­ritiker, er wäre am 2. Juni einhundert Jahre alt geworden.

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