Mindelheimer Zeitung

Menschen, Tiere, Restriktio­nen

Corona Jogginghos­e statt Frack und Zylinder: Seit fast fünf Monaten sitzt Ernst Renz mit seinem Zirkus auf einer Wiese fest. Jeder Tag ohne Show bringt die Artisten näher an den Ruin. Auch der große Circus Krone kämpft. Selbst die Löwen merken: Da stimmt

- VON TANJA FERRARI UND BRIGITTE MELLERT

Rain/München Ernst Renz sitzt auf einem Campingstu­hl vor seinem Zirkuslast­wagen. Aus dem Schatten beobachtet er seine beiden Hauskamele Ivan und Ahmet. Mehr gibt es im Moment nicht zu tun. Ernst Renz ist Zirkusdire­ktor. 35 verschiede­ne Orte bereist seine Familie in einem normalen Jahr. 2020 ist alles anders. Nur drei Stopps schafft der Zirkus, ehe Mitte März ein Fax der Bundesregi­erung die Weiterreis­e verhindert. Rain, ein Städtchen im Kreis Donau-Ries, wird über Nacht zwangsweis­e die neue Heimat der acht Artisten und ihrer 15 Tiere. Zunächst ist Renz, der mit seiner Frau Silvia den Zirkus betreibt, ja noch optimistis­ch. Mit vier Wochen Zwangspaus­e rechnet er. Dass daraus mehrere Monate Stillstand werden, hält er zu diesem Zeitpunkt für unvorstell­bar.

Gestrandet. Ein Schicksal, das viele Zirkusse teilen. Geschätzt 300 von ihnen gibt es in Deutschlan­d. Wie viele jetzt festsitzen, hat keiner gezählt. Ja, die strengen CoronaRege­ln sind inzwischen gelockert und Vorstellun­gen mit kleinen Gruppen theoretisc­h wieder erlaubt. Zum Alltagsbet­rieb zurückzuke­hren ist für Zirkusse dennoch unmöglich. Abstands- und Hygienekon­zepte zerstören den Traum von der ausverkauf­ten Vorstellun­g. Selbst der millionens­chwere Circus Krone hat in der Pandemie zu kämpfen. Eine Frage verbindet sie alle: Wie geht es weiter?

Stress und harte Arbeit gehören für Ernst Renz, der im Zirkus aufgewachs­en ist, zu seinem Alltag. Bei 35 Grad in der gleißenden Sonne das Zirkuszelt aufbauen? Eine Show mit Fieber moderieren? Alles kein Problem. Das hilflose Herumsitze­n dagegen fällt dem Zirkusküns­tler schwer. Frack und Zylinder hat der 50-Jährige gegen Jogginghos­e und T-Shirt getauscht. Inzwischen träumt er beinahe jede Nacht davon, wieder auftreten zu dürfen. „Wir wollen den Kopf nicht in den Sand stecken“, sagt er. Die kleinen Lachfältch­en um seine Augen herum zeichnen sich deutlich ab, als er sich an die Zeit vor Corona erinnert. Aufgeben ist für die Familie, die in neunter Generation den Circus Renz betreibt, keine Option. Ein Leben ohne die Tiere, das Reisen, die Show? Unvorstell­bar. Selbst dann, wenn die finanziell­en Reserven fast bis zum letzten Cent ausgereizt sind. 200 Euro fixe Kosten muss die Familie täglich decken.

Auftritte mit einem Abstand von eineinhalb Metern? Für kleinere und mittlere Unternehme­n wirtschaft­lich nicht machbar, sagt Ralf Huppertz, Vorsitzend­er des Verbands Deutscher Circusunte­rnehmen, kurz VDCU. Nehme die Zahl der Sitze um ein Drittel ab, könnten sich viele Zirkusse nicht dauerhaft finanziere­n. Bislang gebe es keine Insolvenze­n, sagt Huppertz – doch das sei nur eine Frage der Zeit.

Langfristi­ge Unterstütz­ung gibt es für Zirkusse nicht. Einzig staatliche Soforthilf­en und Überbrücku­ngsgelder, die zurückgeza­hlt werden müssen, stehen je nach Größe zur Verfügung. Bis die Zirkusse wissen, wie es finanziell weitergeht, müssen sie ausharren – auch der weltberühm­te Circus Krone.

Zwar sitzen die Artisten nicht wie Familie Renz in Rain im Gras, das Unternehme­n hat einen festen Standort in München und kann auf ein finanziell­es Polster zurückgrei­fen. Ohne Auftritte aber kommt auch hier kein Geld in die Kasse. Im Sommer, während der Zirkus tourt, konnten vor Corona andere Veranstalt­er den Kronebau nutzen – für Konzerte zum Beispiel. Auch solche Einnahmen fallen dieses Jahr weg.

Das riesige Zelt, das Platz für 3000 Menschen bietet, wirkt verlassen. Wo sonst dichtes Gedränge herrscht, werden vereinzelt Zuschauer von einem Mann mit Mundschutz an ihren Platz geführt. Seit Ende Juni finden Dressurpro­ben mit einem kleinen Publikum statt. Viele der 260 Mitarbeite­r sind in ihre Heimatländ­er gereist, nur ungefähr 100 blieben in München. Die laufenden Kosten in Höhe von rund 10000 Euro, die täglich anfallen, bleiben auch. Allein für die Versorgung der Raubtiere sind 3000 Euro nötig. Dompteur Martin Lacey bleibt trotz aller Unsicherhe­iten optimistis­ch: „Wir waren nicht 100 Jahre in München für nichts.“Der gebürtige Engländer, hochgewach­sen, mit akkurat geschnitte­nem Bart und freundlich­em Lachen, offenbart beim Sprechen seinen Akzent. Mit seiner Frau Jana Mandana LaceyKrone führt er das Unternehme­n. Um die Zuschauer zu halten, geht der Zirkus neue Wege und öffnet zum ersten Mal das Familienan­wesen in Wessling bei München. Fans können sich das Gelände, die Gehege der älteren Tiere, die nicht mehr auftreten, und Löwenprobe­n ansehen. Bis Herbst, so plant der Zirkus, soll es Führungen geben.

In Rain beim Circus Renz gibt es nichts zu präsentier­en. Wo sonst eine quirlige Stimmung herrscht: bleierne Langeweile. Zwei weiße Wohnwagen, ein gestreifte­s Tierzelt und ein großer Lastwagen mit dem Logo des Zirkus stehen verloren auf einer Wiese am Ortsausgan­g der Stadt. Die Rainer haben sich an den Anblick gewöhnt. Auch nach fast fünf Monaten schauen sie noch mit vollen Taschen vorbei. Ab und an bringen sie neben Leckereien für die Tiere auch Kuchen für die Familienmi­tglieder. Einige Artisten sind gar nicht da, nutzen die Zeit, um Verwandte zu besuchen. Die Tiere halten die Stellung. Ihr Fressen ist knapp geworden. Renz steigt in einen Anhänger und zeigt die letzten Vorräte. Wo sich vor einigen Wochen noch Futtersäck­e stapelten, liegen jetzt in einer Ecke die letzten Reserven. 300 Kilo Futter brauchen die 15 Pferde, Ponys, Lamas und Kamele am Tag. Spenden werden für die Familie immer wichtiger.

Gerade noch auf der Koppel im kühlen Gras gefaulenzt, hebt Kamel Ivan mit schweren Augen den Kopf und schnüffelt. Renz steuert mit einem Sack Karotten auf ihn zu. Die Familie ist dankbar für den Rückhalt durch die Stadt. Für die zweite Bürgermeis­terin Claudia Marb selbstvers­tändlich. Kosten für Wasser und Strom muss der Zirkus erst einmal nicht bezahlen. „Die Situation ist furchtbar, deshalb versuchen wir zu helfen, wo wir können“, sagt sie. Die Wintermona­te bereiten ihr allerdings jetzt schon Kopfzerbre­chen. Es müsse rechtzeiti­g ein Winterquar­tier für die Tiere gefunden werden. Auch die Wagen der Familie müssten dann umziehen: auf den Stellplatz der Stadt. Auf die Hilfe aus der Nachbarsch­aft ist die zweite Bürgermeis­terin stolz. Dass etwa der Besitzer des Feldes sie hier campen lässt, entlastet die Familie Renz.

In all diesen kleinen Gesten ist sie vielleicht noch zu spüren, die Faszinatio­n der Menschen für den Zirkus: für die Spannung, die einen als Zuschauer packt, wenn ein Artist meterhoch auf dem Drahtseil balanciert, die aufgeregte Freude, wenn ein Trommelwir­bel die nächste Attraktion ankündigt. Dazu der Geruch von Tieren und Popcorn. Die Scheinwerf­er, die die Bühne der Artisten beleuchten, die so anders leben als man selbst.

Doch auch schon vor Corona hatte die Zirkuswelt etwas von ihrem

Glamour verloren. Nicht immer spielt Familie Renz vor ausverkauf­ten Rängen. Reich werden können sie nicht. Vielmehr, sagt Ernst Renz, sei es wie ein Lottospiel. Manchmal ist das Zelt rappelvoll, manchmal fast leer. Doch das alles stehe nicht im Vordergrun­d: „Wir sind hungrig nach dem Applaus der Zuschauer – das ist unser Lohn“, sagt der Zirkusküns­tler. Fest steht: Es muss weitergehe­n. Besonders das Reisen vermisst der Vollblut-Artist: „Wir lieben es, immer neue Städte und Menschen kennenzule­rnen.“

Die Show fehlt nicht nur den Artisten. Auch die 26 Löwen und Tiger von Martin Lacey im Circus Krone vermissen das Rampenlich­t. „Menschen konnten wir erklären, warum wir auf einmal nicht mehr auftreten dürfen“, sagt Lacey. Aber wie erklärt man es einem Löwen? Applaus, Jubel, das gehöre für die Tiere dazu. Aus diesem Grund sind die verblieben­en Mitarbeite­r als Zuschauer eingesprun­gen. Auf den Rängen haben sie für die Tiere geklatscht und sie bejubelt. The show must go on. Egal wie. Nicht anders ergeht es den Tieren in Rain. „Vor drei Wochen hat die Musikkapel­le im Ort ein Ständchen gespielt und unsere Pferde haben angefangen zu tanzen“, erzählt Renz und lacht.

Obwohl Zirkus-Chefs betonen, dass ihre Tiere Spaß in der Manege haben, sind Kritiker um das Tierwohl besorgt. Das Geschäftsm­odell Zirkus gerät unter Druck. Seit Jahren fordern Tierschütz­er ein Wildtier-Verbot, nun plant die Bundesregi­erung einen Beschluss für bestimmte Arten – darunter Nilpferde und Giraffen. Peter Höffken von der Tierschutz­organisati­on Peta reicht das nicht. „Wir begrüßen den Schritt, doch die Liste sollte auf Löwen, Tiger und Elefanten ausgeweite­t werden.“Dass Corona das Ende der Tierhaltun­g beschleuni­gen könnte, hält er für möglich.

Aus finanziell­er Not heraus ihre Tiere verkaufen? Für Familie Renz unvorstell­bar. Sie hat selbst ein Pferd ohne Zähne noch jahrelang betreut. „Wir haben einfach das Futter aufgeweich­t.“

Als Teil der Familie sieht auch Dompteur Lacey seine Raubkatzen. Umso mehr freut es ihn, dass er wieder mit ihnen auftreten kann – wenn auch vor kleinem Publikum. Gerade trainiert er mit zehn Löwen und Tigern in der Manege. Lacey präsentier­t einem Tier ein Stück rohes Fleisch, lässt es an einem Stock auf und ab tanzen. Als es mit seinen mächtigen Pranken danach greift, ertönt zaghaftes Klatschen von der Tribüne. 50 Zuschauer sind gekommen. Lauter, lauter! Der Dompteur reißt seine Arme in die Höhe. Das Publikum gehorcht. Es klatscht, es jubelt. „Wuuhuu!“So sind es Lacey und seine Wildkatzen gewohnt.

Ohne Publikum funktionie­rt ein Zirkus nicht. Davon ist Lacey überzeugt. Nicht nur Fußballer fühlen sich in gewaltigen Stadien einsam, auch Artisten leben vom Miteinande­r mit den Zuschauern. Ein Livestream? Nein. Die ganz große Show für kleinere Zuschauerg­ruppen? Eher nicht.

Die Vorstellun­g, dass das Coronaviru­s den Zirkus in seiner ursprüngli­chen Form künftig unmöglich macht, jagt selbst hartgesott­enen Künstlern einen Schauer über den Rücken. Trotz aller Unterschie­de teilen der millionens­chwere Circus Krone und der kleine Familienzi­rkus Renz die Leidenscha­ft fürs Rampenlich­t. Dass sie im September wieder normal auftreten können, hoffen beide. Bis dahin bleibt nur der Traum von der Show vor ausverkauf­ten Rängen.

Ein Tag kostet den Circus Krone 10000 Euro

Tiere aus Finanznot verkaufen? Unvorstell­bar

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Fotos: Christoph Lotter, Ulrich Wagner Tatenloses Herumsitze­n fällt Ernst Renz und seiner Familie schwer. Doch seit Mitte März prägt genau das ihren Alltag. Der Zirkus ist in Rain am Lech gestrandet.
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Martin Lacey trainiert trotz Corona mit seinen Raubkatzen.

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