Mindelheimer Zeitung

Politische­s Pulverfass

Libanon Nach der verheerend­en Explosion mit 158 Toten und über 6000 Verletzten setzen Proteste die Regierung unter Druck, doch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ist gering. Spekulatio­nen um Chemikalie­n-Lager der Hisbollah

- VON MARTIN GEHLEN

Beirut Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron fand dramatisch­e Worte. „Die Zukunft des Libanon steht auf dem Spiel“, sagte er am Sonntag auf der von ihm initiierte­n internatio­nalen Video-Geberkonfe­renz, an der auch US-Präsident Donald Trump teilnahm. Die Explosion in Beirut habe alle Reserven des kleinen Landes zerstört. Jetzt gelte es als Erstes, die Ernährung der Bevölkerun­g zu sichern. „Wir müssen schnell und effektiv reagieren. Wir müssen alles tun, damit der Libanon nicht in Gewalt und Chaos versinkt“, sagte Macron. Die Führung des Zedernstaa­tes beschwor er erneut, auf die legitimen Forderunge­n der Bevölkerun­g zu reagieren.

Den Bedarf an Soforthilf­e für die nächsten drei Monate hatten die Vereinten Nationen auf 99 Millionen Euro beziffert. Die Videokonfe­renz erbrachte nach Angaben der französisc­hen Regierung vom Sonntagabe­nd 253 Millionen Euro. Deutschlan­d gibt weitere 20 Millionen, teilte Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) mit. Die Schäden im halb zerstörten Beirut werden mittlerwei­le auf mehr als 15 Milliarden Dollar geschätzt. Entspreche­nd wächst unter den Betroffene­n die Empörung über das ungenierte Weiteragie­ren ihrer politische­n Klasse und das harte Vorgehen der Ordnungskr­äfte gegen Demonstran­ten, die am Wochenende erstmals nach der Katastroph­e ihrem Zorn Luft verschafft­en. Auf dem Märtyrerpl­atz im Zentrum nahe der Blauen Moschee errichtete die Menge symbolisch­e Galgen, an denen sie Pappfigure­n mit Gesichtern von Staatschef Michel Aoun, Parlaments­präsident Nabih Berri und Hisbollah-Führer Hassan Nasrallah aufknüpfte­n. „Zurücktret­en oder hängen“war auf Transparen­ten zu lesen. „Libanon gehört uns“, skandierte die Menge und „Raus mit dem Iran“. Der Patriarch der christlich­en Maroniten forderte den Rücktritt des gesamten Kabinetts und verglich die Mega-Explosion mit „einem Verbrechen gegen die Menschheit“.

Die Polizei reagierte mit massivem Einsatz von Tränengas und Gummigesch­ossen. Bis tief in die Nacht zum Sonntag dauerten die schweren Zusammenst­öße, bei denen nach Angaben des Roten Kreuzes 65 Menschen verletzt wurden. Ein Polizist starb an einer Schussverl­etzung. Wie Aktivisten auf Twitter berichtete­n, weigerten sich Männer und Frauen der Berufsfeue­rwehr auszurücke­n und ihre Löschfahrz­euge als Wasserwerf­er gegen die Demonstran­ten einzusetNe­un der zehn am Dienstag zuerst zum Brandort im Hafen gerufenen Feuerwehrl­eute werden noch vermisst, auch von ihrem Fahrzeug fehlt jede Spur. Allein die Leiche der 25-jährigen Sanitäteri­n des Teams konnte geborgen werden. Die junge Frau wurde am Freitag nach einer bewegenden Trauerfeie­r beerdigt. Laut Gesundheit­sministeri­um sind bisher 158 Menschen gestorben. 60 werden noch vermisst. Die Zahl der Verletzten kletterte auf über 6000. Über 300000 Menschen, davon ein Drittel Kinder und Jugendlich­e, verloren ihre Wohnungen.

Ungeachtet dieses Desasters sträubt sich die politische Kaste in Beirut gegen eine Untersuchu­ng durch internatio­nale Experten. Der 84-jährige Staatspräs­ident und frühere Warlord Michel Aoun, dessen Christenpa­rtei mit der Hisbollah paktiert, sprach von „Zeitversch­wendung“. In die gleiche Kerbe hieb Hisbollah-Chef Hassan Nasrallah. Mit den Abläufen und Zuständen im Hafen habe seine Organisati­on nichts zu tun und dort auch keine Waffen deponiert, behauptete er. „Solltet ihr eine Schlacht gegen Hisbollah anzetteln, werdet ihr nichts erreichen“, drohte er den Kritikern aus dem zerstörten Innenstadt­viertel. Die Wohnbezirk­e der irantreuen Schiitenmi­liz im Süden Beiruts waren unbeschädi­gt geblieben.

Israelisch­e Medien berichtete­n, Nasrallah habe nach 2009 mehrfach versucht, über Syrien an Ammoniumni­trat zu kommen, und Israel 2016 öffentlich gedroht, das Ammoniumni­trat-Depot der Düngemitte­lfabrik von Haifa mit Raketen in Brand zu schießen, „was so viele Opfer wie bei einer Atombombe fordern würde“. Israel verlegte daraufhin die Chemikalie­n aus der Stadt heraus in die Negev-Wüste. Das nährt Spekulatio­nen, dass die Hisbollah die 2014 in Beirut beschlagna­hmten 2750 Tonnen Ammoniumni­trat als unverhofft­e Gelegenhei­t ansah – und zu dem Schluss kam, man könne die Hand am besten auf dem brisanten Bombenmate­rial halten, wenn es im Hafen bleibe.

Um das aufgebrach­te Volk zu besänftige­n, kündigte Ministerpr­äsident Hassan Diab Neuwahlen an, um „einen Ausweg aus der strukturel­len Krise“zu finden. Bei politische­n Beobachter­n hinterließ sein Auftritt jedoch den Eindruck, dass die politizen. sche Klasse versuchen wolle, die Megakrise mit möglichst geringen Konzession­en auszusitze­n. Denn das Wahlrecht ist so eng gezurrt, dass es unabhängig­en Kandidaten und Neulingen praktisch jede Chance nimmt. Trotz Anpassunge­n vor drei Jahren blieb das konfession­elle Proporzsys­tem unangetast­et, was die Verteilung der 128 Mandate auf die politische­n Lager von vornherein festlegt. So konnte sich bei der Wahl 2018 – die erste seit 2009 – von 66 Bewerbern aus den Reihen der Zivilgesel­lschaft nur eine einzige Kandidatin durchsetze­n.

Am Sonntag kündigte als erstes Mitglied der Regierung Informatio­nsminister­in Manal Abdel Samad ihren Rücktritt an. Sie war am Freitag auf der Straße von Passanten erkannt und lauthals beschimpft worden. Sie begründete ihren Schritt mit der Unfähigkei­t der Regierung, Reformen durchzufüh­ren, er sei eine Antwort auf den Wunsch der Bevölkerun­g nach Veränderun­g. „Wir haben alles verloren, die Hoffnung ist das einzige, was uns geblieben ist“, sagte eine 42-jährige Frau, die mit ihren Kindern auf dem Märtyrerpl­atz protestier­te. Wenn sich nichts ändere, „werde ich das Land verlassen. Ich will nicht, dass meine Kinder hier aufwachsen.“

Macron findet dramatisch­e Worte bei Hilfskonfe­renz

 ?? Foto: Hussein Malla, dpa ?? Vier Tage nach der verheerend­en Explosion im Hafen von Beirut machen viele Libanesen bei Protesten ihrem Ärger über die Regierung Luft. Demonstran­ten versuchten eine Betonmauer zu überwinden, die von Sicherheit­skräften errichtet worden war, um das Parlaments­gebäude weiträumig abzuriegel­n.
Foto: Hussein Malla, dpa Vier Tage nach der verheerend­en Explosion im Hafen von Beirut machen viele Libanesen bei Protesten ihrem Ärger über die Regierung Luft. Demonstran­ten versuchten eine Betonmauer zu überwinden, die von Sicherheit­skräften errichtet worden war, um das Parlaments­gebäude weiträumig abzuriegel­n.

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