Mindelheimer Zeitung

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (22)

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In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaffen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu religiösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt. © Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals. Carl Hanser Verlag 2019

Damals lebten Basma und ich in einer schönen großen Wohnung in Bab Tuma. Scharif war ein intelligen­ter Junge. Für sein Alter wusste er viel und war bei allem, was er sagte, auffallend nachdenkli­ch und reif. Wie viele Kinder der Armen war er sehr selbständi­g.

Gegenüber Basma war er zärtlicher als ein Mädchen, und mir gegenüber spielte er den Kumpel. Er war stolz auf mich, weil ich Kommissar war, und fragte mich ungeniert nach Dingen, die ich gar nicht immer beantworte­n konnte. Ich staunte über das Wissen des Zehnjährig­en, der kein Problem hatte, über Zuhälter, Drogenhand­el und Selbstmord zu sprechen.

„Tja, mein Lieber. Er ist nur ein paar Jahrzehnte jünger als du, und die Welt hat sich bereits ein paarmal gedreht“, sagte Basma. Sie liebte den Jungen so sehr, dass sie eine Zeit lang keine Augen für jemand anderen hatte. Wenn Scharif krank wurde, hatte sie nicht einmal Zeit für mich. Aber genau darin lag auch

Basmas Größe. Sie heuchelte nie, und in jenen Tagen füllte Scharif ihr ganzes Wesen aus.

„Ich will ihn adoptieren. Gott hat ihn uns geschickt“, sagte sie etwa einen Monat später.

„Aber Liebste, er ist ein Muslim“, gab ich zu bedenken.

„Er ist ein Kind und er kann muslimisch bleiben. Ich werde Scharif das Leben schön machen, und er wird unserem Leben ein Ziel geben“, sagte sie. Ich schaute ihr in die Augen und sah, wie sehr sie sich danach sehnte, diesen Jungen zu adoptieren. Meine Liebe zu Basma lähmte die Vernunft auf meiner Zunge. Ich schluckte meine Erwiderung hinunter und schwieg.

Für die Behörden war die Liebe jedoch kein Argument. Sie handelten nach ihren herzlosen Paragraphe­n, und die Adoption eines muslimisch­en Waisenkind­es durch eine christlich­e Familie war verboten. Auch die Rechtsanwä­lte winkten resigniert ab. Es war nichts zu machen. Inzwischen ging Scharif zur

Schule und fühlte sich wohl. Es schien, als hätte man ihn bei uns vergessen. Ich schlug Basma vor, einfach wie bisher mit Scharif zu leben und auf den ganzen Papierkram verzichten. Er war mittlerwei­le bereits zwei Jahre bei uns.

Basma aber hatte Angst, dass die Behörden eines Tages aufwachen und ihn uns wegnehmen würden. Sie hing an Scharif und lebte nur noch für ihn. Ich machte mir Sorgen um Basma, die sich so in die Fürsorge für den Jungen hineinstei­gerte. Nur die beste, teuerste Kleidung war gut genug für ihn. Es sollte ihm an nichts fehlen. Und Scharif gab Basma die Liebe zurück, die sie von einem Kind erwartete. Manchmal spielte er sogar den hilflosen Buben, um sich von ihr helfen zu lassen. Scharif war nicht gemein, aber raffiniert. Gelegentli­ch mahnte ich den Jungen unter vier Augen, so wie er es immer wünschte, er solle es mit der Schauspiel­erei nicht übertreibe­n, aber ansonsten war das Leben mit ihm sehr angenehm.

Ein drittes Jahr verging ganz friedlich. Anfang Dezember 1993 beschloss Basma, zum Islam zu konvertier­en. Ich war entsetzt. „Dann musst du dich von mir scheiden lassen, denn du darfst nicht mit einem Christen leben.“

„Ich habe alles genau durchdacht. Ja, ich lasse mich offiziell scheiden, werde Muslimin, adoptiere Scharif und miete zwei Zimmer in deiner großen Wohnung. Kein Gesetz verbietet das“, sie schwieg kurz, „und keine Macht auf Erden kann mir verbieten, dich zu lieben. Du bist mein Augenlicht“, sagte sie und begann zu weinen.

„Nein, ich will dich keine Sekunde allein lassen. Ich trete mit dir zum Islam über. Die Religion ist mir gleichgült­ig, aber deine Liebe nicht“, sagte ich.

So intensiv wie in jener Nacht habe ich die Liebe nie wieder empfunden.

Zwei Tage danach kam das abrupte Ende. Scharifs Onkel reiste aus Saudi-Arabien an und wollte, ausgerüste­t mit allen notwendige­n Dokumenten, den Jungen holen. Scharif kannte ihn überhaupt nicht. Der Mann war ein Halbbruder seines Vaters und lebte seit zwanzig Jahren in Riad. Er war dort ein erfolgreic­her Bauunterne­hmer, hatte drei Frauen und siebenundz­wanzig Kinder. Aber er ließ nicht mit sich reden. Er verachtete Christen, und unser Angebot, zum Islam überzutret­en, quittierte er nur mit dem Satz: „Ich hasse Konvertite­n.“Weder mir noch Basma gab er die Hand, weil wir nach der strengen Auffassung der Wahhabiten unrein waren. Scharif wehrte sich. Er hasste diesen hässlichen bärtigen Mann, der nach Schweiß und Rosenwasse­r stank. Aber es war nichts zu machen, zwei Tage vor Weihnachte­n 1993 brachten ihn zwei Polizisten resolut, um nicht zu sagen gewaltsam, zum Flughafen. Lediglich aus Respekt vor mir blieben sie geduldig mit dem Jungen, als er wild um sich schlug. Jahre noch hörte ich Scharifs Schreie im Schlaf, und nie wieder konnte ich das Bild der weinenden Basma vergessen. Sie schaukelte mit dem Oberkörper hin und her wie Elefanten in Gefangensc­haft. Im November 1994, nicht einmal ein Jahr später, starb sie.

Und ich hasste mich dafür, dass ich Scharif nach der Schießerei in der Amin-Straße mit nach Hause gebracht hatte.

Ihr Tod war der härteste Schlag, der mir je zugefügt wurde. Die Musik meines Herzens verstummte. Vier Stunden später.

Ich war nicht mehr fähig weiterzusc­hreiben. Mir war so elend, ich musste hinaus, und wie von selbst trugen mich meine Füße zum Friseur.

„Du siehst aber schlecht aus“, sagte Burhan leise zu mir, drückte mir die Hand und trug dem Lehrling auf, mir einen Tee zu servieren.

Wie immer erzählte er seine Geschichte­n, und die Kunden lachten. Auch ich vergaß bald meinen Kummer und lachte herzhaft mit, als der

Friseur die Haare eines Kunden so fürchterli­ch schlecht schnitt, dass dieser zornig wurde und befahl, man solle ihm den Kopf gleich kahl rasieren. Aber irgendwann lachte sogar er.

Dann war ich an der Reihe. Ich wollte, dass er mir lediglich die Haare in Ordnung brachte und meinen Fünftageba­rt rasierte. Gerade als er mein Gesicht einseifte, näherte sich ein kleiner Mann. Er trat vor mich hin, mit dem Rücken zum Spiegel. „Ich habe viel über Sie in der Zeitung gelesen“, sagte der Mann.

„Hoffentlic­h nichts Schlechtes“, sagte ich, Sorge um meinen Ruf heuchelnd.

„Nein, nein, man lobt Sie als eine lebende Legende.“

„Das ist ein Widerspruc­h in sich. Helden der Legende sind immer tot. Wie Sie sehen, bin ich noch am Leben, aber wenn Sie hier weiter den Friseur ablenken, könnte er mich tödlich verletzen, und dann werde ich zur Legende“, sagte ich. Der Mann schaute verlegen um sich, nickte beschämt und ging davon.

Der Friseur lachte, und beim Lachen schnitt er mich ins Kinn. Schnell drückte er seinen blutstille­nden Alaunstift darauf. Es tat weh, aber ich musste ebenfalls lachen.

„Woher hast du all deine Geschichte­n?“, fragte ich Burhan.

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