Ohne Scharfblick tut das Sehen gut
Salzburger Festspiele II Augen auf für die Fülle der Möglichkeiten: Überlegungen zu Peter Handkes „Zdeneˇk Adamec“
Salzburg Zdeneˇk Adamec, der sich 2003 aus Protest gegen den Zustand der Welt auf dem Wenzelsplatz in Prag mit fünf Litern Benzin übergossen und angezündet hat, wäre heute 35 Jahre alt. Peter Handke hat dem Studenten aus Humpolec in Böhmen ein Requiem geschrieben und lässt sein kurzes Leben in einem Theaterstück zu einem poetischen Kaleidoskop werden. Darin spiegeln sich Imagination und Fakten gleichwertig, und das Mögliche ist nicht weniger zwingend als das „Tatsächliche“.
Mit „Zdeneˇk Adamec“rückt der Nobelpreisträger nicht nur einen Vergessenen wieder in den Blick, einen „Alleinspieler“, der nicht taugte als politische Symbolfigur. In seinem Theater-Text, bei den Salzburger Festspielen in der Regie von Friederike Heller uraufgeführt, verhandelt Handke auch die Frage, wie sehr wir unter dem Bann des „Aktuellen“stehen, der Nachrichten und Informationen – und welche Lesarten jenseits des „Faktischen“wir haben. Da ist vom „Aktualitätenhorror“
die Rede, und einmal heißt es aus dem Chor der Stimmen, in einer schönen Anspielung auf Rilkes Panther, der hinter tausend Stäben gefangen ist: „Es ist, als ob es nur noch Aktualitäten gäbe, und hinter tausend Aktualitäten keine Welt.“
In seinem Text befreit Peter Handke, der in allen „Stimmen“als Autor durchklingt, nicht nur den 18-jährig in den Freitod gegangenen Zdeneˇk Adamec aus dem Korsett der Fakten und der bekannten Biografie. Das Stück (Spieldauer zwei Stunden) ist wie ein Appell, gleichsam „alternative Fakten“zuzulassen. Als da wären: das Märchenhafte, die Poesie, die Vorstellungskraft, die Freiheit, unvoreingenommen zu sehen, Wünsche, Träume, Zaubern, das Schweifende und Unkontrollierbare der Erinnerungen, Einbildung.
Perspektivwechsel könnte man das auch nennen. Nicht umsonst ist das Rückwärtsgehen ein auch in diesem Stück beschworener Weg, zu anderen „Wahrheiten“zu kommen. Sie zumindest zu wägen, sie einzubeziehen ins Bild. „Mit wahren Begebenheiten könnt ihr mich jagen. Und lang genug nun im Leben war ich ein Gefangener all der Aktualitäten“, sagt eine der Figuren, die sich im Stück Zdeneˇk Adamec annähern. Emanzipation vom Lagerfeuer der Abendnachrichten.
Peter Handke, dem man im Zusammenhang mit seiner Haltung und Texten zum Jugoslawienkrieg Leugnung und Verharmlosung von Kriegsgräuel vorwirft, meint nicht ein plattes Ignorieren oder Zurechtbiegen von Tatsachen. Ihm geht es um den Erkenntniswert des anderen Blicks. Alles auf null stellen und dann: befragen, zweifeln, rätseln, für möglich halten. In Handkes poetologischer Weltformel ist die „Quellenlage“keine journalistische. Jemand verkündet, Zdeneˇk habe sich auf seinem letzten Gang zum Wenzelsplatz nichts so sehr gewünscht, als dass ihn jemand anrempele. „Woher weißt du das?“, fragt einer. Antwort: „Vom Wind. Vom Dieb oben im Apfelbaum.“Recherche und Erfindung ergänzen sich. Es existiert mehr als bloß eine Lesart.
Gibt es diese eine gültige Wahrheit, zumal, wenn es um ein Leben geht, einen Menschen, den jeder anders sieht und keiner einzig gültig? Weniger um Nachsicht oder Verklärung ist es Handke in seinem Stück zu tun als vielmehr um einen geweiteten Blick. „Wie tut das Sehen gut ohne den ewigen öden Scharfblick.
Nichts mehr, was in die Augen springt. Wohltat der Unschärfe“, lässt sich eine der Figuren vernehmen. In jener Welt, in der Handke auch Zdeneˇk Adamec gerne hätte weiterschauen lassen, steht neben, ja, gegen Nachricht und Aktualität eine Dringlichkeit des Wahrgenommenen. Augen auf! „Und schaut, der Affe dort in der Tanne, ein Affe in einem Nadelbaum! Und der Zwerg auf der Landstraße – ein Zwerg auf einem Highway! Und, da schau her, ein Kind, das erstmals im Leben einen Reißverschluss zieht.“Recherchen des Weltbeschwörers Handke ergeben im Stück Nachrichten von dieser Qualität: „Verschwende deine Zeit, so hast du in der Not!“Oder: „Licht an in deinen Achselhöhlen.“
Wer sich aus dem Gefängnis der Gewissheiten herauswagt, der findet vielleicht nicht „die“Wahrheit – aber er wird sich nie mehr abfinden wollen mit den „gegebenen“Verhältnissen. Manchmal geht es nicht weiter, aber das ist immer noch ein offener Schluss. Und so endet auch Peter Handkes Stück: „Plötzlich weiß ich nicht mehr.“