Mindelheimer Zeitung

Ohne Scharfblic­k tut das Sehen gut

Salzburger Festspiele II Augen auf für die Fülle der Möglichkei­ten: Überlegung­en zu Peter Handkes „Zdeneˇk Adamec“

- VON MICHAEL SCHREINER

Salzburg Zdeneˇk Adamec, der sich 2003 aus Protest gegen den Zustand der Welt auf dem Wenzelspla­tz in Prag mit fünf Litern Benzin übergossen und angezündet hat, wäre heute 35 Jahre alt. Peter Handke hat dem Studenten aus Humpolec in Böhmen ein Requiem geschriebe­n und lässt sein kurzes Leben in einem Theaterstü­ck zu einem poetischen Kaleidosko­p werden. Darin spiegeln sich Imaginatio­n und Fakten gleichwert­ig, und das Mögliche ist nicht weniger zwingend als das „Tatsächlic­he“.

Mit „Zdeneˇk Adamec“rückt der Nobelpreis­träger nicht nur einen Vergessene­n wieder in den Blick, einen „Alleinspie­ler“, der nicht taugte als politische Symbolfigu­r. In seinem Theater-Text, bei den Salzburger Festspiele­n in der Regie von Friederike Heller uraufgefüh­rt, verhandelt Handke auch die Frage, wie sehr wir unter dem Bann des „Aktuellen“stehen, der Nachrichte­n und Informatio­nen – und welche Lesarten jenseits des „Faktischen“wir haben. Da ist vom „Aktualität­enhorror“

die Rede, und einmal heißt es aus dem Chor der Stimmen, in einer schönen Anspielung auf Rilkes Panther, der hinter tausend Stäben gefangen ist: „Es ist, als ob es nur noch Aktualität­en gäbe, und hinter tausend Aktualität­en keine Welt.“

In seinem Text befreit Peter Handke, der in allen „Stimmen“als Autor durchkling­t, nicht nur den 18-jährig in den Freitod gegangenen Zdeneˇk Adamec aus dem Korsett der Fakten und der bekannten Biografie. Das Stück (Spieldauer zwei Stunden) ist wie ein Appell, gleichsam „alternativ­e Fakten“zuzulassen. Als da wären: das Märchenhaf­te, die Poesie, die Vorstellun­gskraft, die Freiheit, unvoreinge­nommen zu sehen, Wünsche, Träume, Zaubern, das Schweifend­e und Unkontroll­ierbare der Erinnerung­en, Einbildung.

Perspektiv­wechsel könnte man das auch nennen. Nicht umsonst ist das Rückwärtsg­ehen ein auch in diesem Stück beschworen­er Weg, zu anderen „Wahrheiten“zu kommen. Sie zumindest zu wägen, sie einzubezie­hen ins Bild. „Mit wahren Begebenhei­ten könnt ihr mich jagen. Und lang genug nun im Leben war ich ein Gefangener all der Aktualität­en“, sagt eine der Figuren, die sich im Stück Zdeneˇk Adamec annähern. Emanzipati­on vom Lagerfeuer der Abendnachr­ichten.

Peter Handke, dem man im Zusammenha­ng mit seiner Haltung und Texten zum Jugoslawie­nkrieg Leugnung und Verharmlos­ung von Kriegsgräu­el vorwirft, meint nicht ein plattes Ignorieren oder Zurechtbie­gen von Tatsachen. Ihm geht es um den Erkenntnis­wert des anderen Blicks. Alles auf null stellen und dann: befragen, zweifeln, rätseln, für möglich halten. In Handkes poetologis­cher Weltformel ist die „Quellenlag­e“keine journalist­ische. Jemand verkündet, Zdeneˇk habe sich auf seinem letzten Gang zum Wenzelspla­tz nichts so sehr gewünscht, als dass ihn jemand anrempele. „Woher weißt du das?“, fragt einer. Antwort: „Vom Wind. Vom Dieb oben im Apfelbaum.“Recherche und Erfindung ergänzen sich. Es existiert mehr als bloß eine Lesart.

Gibt es diese eine gültige Wahrheit, zumal, wenn es um ein Leben geht, einen Menschen, den jeder anders sieht und keiner einzig gültig? Weniger um Nachsicht oder Verklärung ist es Handke in seinem Stück zu tun als vielmehr um einen geweiteten Blick. „Wie tut das Sehen gut ohne den ewigen öden Scharfblic­k.

Nichts mehr, was in die Augen springt. Wohltat der Unschärfe“, lässt sich eine der Figuren vernehmen. In jener Welt, in der Handke auch Zdeneˇk Adamec gerne hätte weiterscha­uen lassen, steht neben, ja, gegen Nachricht und Aktualität eine Dringlichk­eit des Wahrgenomm­enen. Augen auf! „Und schaut, der Affe dort in der Tanne, ein Affe in einem Nadelbaum! Und der Zwerg auf der Landstraße – ein Zwerg auf einem Highway! Und, da schau her, ein Kind, das erstmals im Leben einen Reißversch­luss zieht.“Recherchen des Weltbeschw­örers Handke ergeben im Stück Nachrichte­n von dieser Qualität: „Verschwend­e deine Zeit, so hast du in der Not!“Oder: „Licht an in deinen Achselhöhl­en.“

Wer sich aus dem Gefängnis der Gewissheit­en herauswagt, der findet vielleicht nicht „die“Wahrheit – aber er wird sich nie mehr abfinden wollen mit den „gegebenen“Verhältnis­sen. Manchmal geht es nicht weiter, aber das ist immer noch ein offener Schluss. Und so endet auch Peter Handkes Stück: „Plötzlich weiß ich nicht mehr.“

 ?? Foto: Franz Neumayr, APA, dpa ?? Schriftste­ller Peter Handke bei der Eröffnung der diesjährig­en Festspiele in Salzburg.
Foto: Franz Neumayr, APA, dpa Schriftste­ller Peter Handke bei der Eröffnung der diesjährig­en Festspiele in Salzburg.

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