Bildung ganz anders „Streulicht“ist ein packendes Debüt
Deniz Ohde
Leben in der Enge, in einem Haushalt, der eigentlich längst entrümpelt gehörte, weil der Vater nichts wegwerfen kann, aber alles doppelt kauft. Er kommt vom Ort, die Mutter stammt aus der Türkei und flüchtete dort vor engen und brutalen familiären Banden. Sie zog mit der Hoffnung auf ein besseres Leben nach Deutschland und fand dann aber nur eine andere Familienkatastrophe. Denn ihr Mann, der sie anfangs so frech und frei angesprochen hatte, entzog sich den Herausforderungen des Lebens. Statt mit der jungen Familie ein neues Leben zu beginnen, wich er aus, ging nach seinen Schichten im Industriepark, in denen er Aluminiumbleche in Lauge tunkt, in Kneipen. Nach solchen Tagen herrschte zu Hause das große Schweigen, genügte schon ein falsches Wort, um alles ins Gewalttätige kippen zu lassen.
Während die Ich-Erzählerin ihren Vater besucht, erinnert sie sich, wie das alles kam. Für das FremdSein
in der Welt, das sich immer stärker zwischen den Zeilen manifestiert, gibt es einen doppelten Grund. Draußen, vor allem in der Schule, aber auch von ihren Freunden, wird sie als Ausländerkind behandelt, dem man schulischen Erfolg nur bedingt zutraut. Zu Hause wartet das Leben, das um das Trinkverhalten des Vaters kreist. Es wird nicht besser, nicht einmal für die Mutter, als sie auszieht und die Familie nur noch aus der Ferne versorgt.
Die Ich-Erzählerin schmeißt die Schule, verschanzt sich zu Hause vor dem Fernseher, magert ab, bis sie sich aufraffen kann, doch noch einen Realschulabschluss an der Abendschule zu machen. Danach holt sie das Abitur nach, wird Klassenbeste, fängt ein Studium an und verheddert sich wieder im Leben, weil an der Universität ihre Pläne fürs geordnete Lernen nicht mehr greifen. Schließlich putzt sie in einer Kanzlei.
Das alles erzählt Ohde schnörkellos, aber umso eindringlicher. Ihre Zeilen sind mit Leben und Lebenswahrheiten aufgeladen. In der IchErzählerin wird anschaulich, wie nah Hoffen und Resignieren, Wollen und Verzagen beieinanderliegen können. Da gelingt Ohde ein Bildungsroman der anderen Art. Nicht an Klugheit, sondern an Selbstbewusstsein und Selbstliebe mangelt es der Ich-Erzählerin. Aber wie soll sie in diesem Umfeld dazu in der Lage sein, wenn alle – Vater, Freunde, Lehrer – sie immer nur auf ihre Unzulänglichkeit hingewiesen haben.
Dazu zeichnet Ohde auch noch das Bild dieses Vororts, der sich als Frankfurt-Sindlingen entschlüsseln lässt. Sie spürt verschiedenen Milieus nach von den einfachen Arbeitern bis zu den Führungskräften in Einfamilienhäusern mit Garten. Der 1988 in Frankfurt geborenen und jetzt in Leipzig lebenden Schriftstellerin ist da ein packendes Debüt gelungen. Richard Mayr