Mindelheimer Zeitung

Audi‰Prozess: Harnstoff, immer wieder Harnstoff

Diesel‰Skandal Der Techniker Giovanni P. versucht, seine früheren Chefs bei dem Ingolstädt­er Autobauer noch stärker zu belasten. Die äußerst technische­n Ausführung­en des Italieners drehen sich immer wieder um die Abgasbehan­dlung

- VON STEFAN STAHL

München Rupert Stadler muss also ausharren, vielleicht bis Ende 2022, dann weitere rund 175 quälende Münchner Prozesstag­e lang. Nachdem seine Verteidige­r kein ExtraVerfa­hren für den Manager durchsetze­n konnten, wird ihm wie den drei weiteren Angeklagte­n, allesamt Motorenent­wickler, gehörig Sitzfleisc­h abverlangt. Dem Ex-AudiChef wirft die Staatsanwa­ltschaft vor, den Verkauf manipulier­ter Dieselfahr­zeuge von Herbst 2015 an nicht gestoppt zu haben. So muss der Betriebswi­rt die Aussagen der drei einmal unter ihm auf unterschie­dlichen Hierarchie-Ebenen angesiedel­ten Mitangekla­gten über sich ergehen lassen. Immer wieder wird der 57-Jährige erleben, dass der Ingenieur Giovanni P. – wie auch am Mittwoch – detaillier­t erklärt, der Dieselbetr­ug sei von oben, vor allem auf Druck von Vertriebsl­euten, gesteuert worden.

An den anstehende­n Prozesstag­en in einem großen Saal unterhalb des Münchner Justizvoll­zugsanstal­t Stadelheim spielt sich dann an jedem Morgen ein ähnliches Ritual ab: Stadler wird wie bislang bemüht sein, möglichst spät Platz in dieser Art Gerechtigk­eitsbunker zu neh

um sich den Blicken der Prozessbeo­bachter nicht noch länger auszusetze­n. Draußen werden sich viele Szenen wiederhole­n: Hundebesit­zer führen entlang der endlos scheinende­n Gefängnism­auern ihre Vierbeiner auf breiten Grünstreif­en aus, lassen sie frei laufen.

Stadler wird also immer wieder einen Ort aufsuchen, um den man besser einen Bogen macht. Ob er schon die Skulptur „Licht und Schatten“der Künstlerin Regina Kochs neben dem Gerichtssa­al unter der Erde wahrgenomm­en hat? Der Lichthof mit einer bunt verzierten Wand, der nach oben vergittert ist, stellt, so sieht es die Erschaffer­in, „eine Leerstelle“dar, „einen von oben belichtete­n, höhlenarti­gen Raum“. Die Arbeit soll die Gleichzeit­igkeit von Hell und Dunkel thematisie­ren. Das ist ein Verweis auf die in jedem Strafproze­ss stattfinde­nde Suche nach Licht und Schatten, „nach einer Wahrheit, die unterschie­dliche Perspektiv­en einbezieht“. Für Stadler und den früheren Audi-Motorenent­wickler und Porsche-Forschungs­vorstand Wolfgang Hatz, 61, ist die Suche nach der Wahrheit unangenehm. Denn der Motoren- und Abgas-Experte Giovanni P. redet und redet, gespickt mit technische­n Verweisen. Der 63-Jährige lässt keine Zweifel aufkommen, dass bei Dieselauto­s von Audi auf der Rolle, also dem Teststand, weniger Stickoxide ausgestoße­n worden seien als auf der Straße. „Straße“und „Rolle“, die Begriffe tauchen immer wieder in den Ausführung­en des Italieners auf. Das zentrale Wort des Ingenieurs ist aber „Harnstoff“, der gebraucht wird, um die Emission von gesundheit­sschädlich­en Stickoxide­n von Dieselfahr­zeugen zu verringern. Hier versucht der Techniker, das frühere Top-Management immer intensiver zu belasten: „Ein Liter pro 1000 Kilometer, sagte der Audimen,

Vorstand.“Demnach behauptet Giovanni P., dass die Spitzenleu­te des Unternehme­ns ehedem den Verbrauch von Harnstoff „gedeckelt“hätten. „Deckeln“, das ist auch ein Lieblingsb­egriff von Giovanni P. Dabei seien aber – und hier wird sein zentraler Vorwurf laut– für saubere Dieselfahr­zeuge zwei Liter Harnstoff je 1000 Kilometer Fahrleistu­ng notwendig gewesen.

Nun spitzt Giovanni P. seine schon bisher schweren Vorwürfe an einstige Chefs zu: „Priorität hatte Wirtschaft­lichkeit, nicht saubere Luft.“Im Kern wirft der Italiener den Ex-Audi-Bossen vor, „dass sie die Kunden nicht verärgern wollten“, indem sie zu häufig Harnstoff, also AdBlue nachtanken mussten. „Die Mutter aller Probleme war die Deckelung des Harnstoff-Verbrauchs und nichts anderes“, doziert Giovanni P. mit lauter werdender Stimme. Fast scheint es, als würde sich das Gericht schon am fünften Verhandlun­gstag dem Kern des Diesel-Skandals im Audi-Reich nähern. Schließlic­h wurde mit einer Software der Stickoxida­usstoß derart manipulier­t, dass er bei Tests, also auf der Rolle, deutlich niedriger als auf der Straße ausfiel. Folglich mussten Dieselfahr­er eben nicht so häufig Harnstoff nachfüllen.

Aus den Vorwürfen von Giovanni P. könnte man folgern, dass zu häufiges Harnstoff-Nachtanken und der Premiumans­pruch von Audi aus damaliger Sicht manchen Verantwort­lichen schwer vereinbar erschienen. Es legt sich ein Schatten über den Prozess. Stadler wird das Wort „Harnstoff“in dem Langzeit-Verfahren noch quälend oft hören. Giovanni P. sagt jedenfalls fatalistis­ch: „Ohne die Harnstoff-Deckelung säßen wir nicht hier.“Dabei hätten die Techniker immer wieder gewarnt: „Wir dürfen nicht gedeckelt werden. Um saubere Autos auf die Straße zu bringen, brauchen wir Harnstoff.“

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Foto: Peter Kneffel, dpa Der frühere Audi‰Chef Rupert Stadler (im Bild) folgt nun schon den dritten Tag den Ausführung­en des Technikers Giovanni P.

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