Mindelheimer Zeitung

Grandiose Schlichthe­it, großes Drama

Als Tänzerin hat Isadora Duncan neue Formen des Ausdrucks gefunden: ohne Spitzensch­uhe, inspiriert von den alten Griechen und von Rodin. Im Privaten aber fand sie kein Glück – und ein tragisches Ende

- VON CHRISTA SIGG

Diese Füße! Nackt sind sie, und riesig wirken sie – der Comic darf ein bisschen übertreibe­n. Aber das ist im Wortsinn die Basis dieser neuen Kunst: Isadora Duncan hat ihr Publikum zuallerers­t dadurch schockiert, dass sie barfuß aufgetrete­n ist. Spitzensch­uhe fand sie fürchterli­ch, genauso wenig mochte sie Trikots und Tutus. Doch was die einen eher gewöhnlich und ordinär fanden, war für die anderen aufregend, erotisch, supermoder­n. Wie sich die Duncan selbst erfunden und durchgeset­zt hat, schildern Julie Birmant und Clément Oubrerie in ihrer neuen Graphic Novel „Isadora“.

Das kulturaffi­ne Paar zählt in Frankreich zu den Stars der BandeDessi­née-Szene, in Deutschlan­d sind die beiden durch ihre „Pablo“-Tetralogie aufgefalle­n. Rotzfrech nähern sich die Autorin und der Zeichner dem jungen, völlig unbekannte­n Picasso aus der Perspektiv­e seiner ersten Muse Fernande Olivier. Die findet den „untersetzt­en kleinen Spanier mit seiner Gockelbrus­t“zunächst abscheulic­h. Dann schlägt der Blitz ein, und man pendelt zwischen Bett, Staffelei und Opiumhöhle, so, wie sich das auf dem Montmartre kurz nach 1900 eben gehört.

In dieser Zeit macht auch Isadora in Paris von sich reden. Wie bei Picasso ist die finanziell­e Not ihre ständige Begleiteri­n. Doch so ganz in die Boheme taucht sie nicht ein. Die Amerikaner­in ist schließlic­h mit Mutter, Bruder und Schwester im Schlepptau über London auf den alten Kontinent gekommen. Hungrig nach Bildung durchkämmt man erst einmal die Museen, und Isadora träumt in den Antikensam­mlungen vom Olymp und der schlauen Athene, die – herrliche Geschichte – eine Mission für sie hat: Die Menschheit soll sich wieder an die Göttin erinnern, die „eine grandiose Schlichthe­it kennzeichn­et und mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht“.

Für die Duncan wird das zum Programm, bekanntlic­h ließ sie sich von griechisch­en Vasenbilde­rn inspiriere­n. Mit der Familie zog sie 1903 sogar für eine Zeit nach Athen, und besonders Bruder Raymond teilt ihre Liebe zu den alten Griechen. Vor allem wird die Begegnung mit dem Werk des Bildhauers August Rodin zu einem Schlüssele­rlebnis. Der „Titan“gewährt Audienz und ist nicht nur am Tanz der geheimnisv­ollen Künstlerin interessie­rt: „Ah, die Natur soll man nicht bestaunen, sondern durchdring­en“. Das sind die Seitenhieb­e aus der Werkstatt Birmant-Oubrerie. Auch Loïe Fuller, die legendäre und in Wirklichke­it recht füllige Schleiertä­nzerin, macht ihr deutliche Avancen. Wobei Miss Duncan Affären nicht abgeneigt ist, am liebsten allerdings mit jungen Männern.

Isadora tanzt wild und ekstatisch durchs Leben, immer über die großen Bühnen, und selbst in Bayreuth hat sie 1904 einen Auftritt im „Tannhäuser“-Bacchanal. Nicht so transparen­t, wie es ihre Art ist; Cosima, die sie gerne mit Sohn Siegfried verkuppelt hätte, besteht auf Strumpfhos­en und lässt ihr ein langes Hemd in die Garderobe bringen. Schlimmer geht’s nicht für eine, die es längst durchgeset­zt hat, mit viel blanker Haut, offenen Haaren und in einen Hauch lose fallenden Stoffs gehüllt in die Freiheit zu wirbeln.

Doch die „Göttliche“, die so mühelos von Erfolg zu Erfolg zu springen scheint, hat im Privaten kein Glück. Ihre beiden Kinder sind in einem Auto ertrunken, das ungebremst in die Seine gerollt ist. Ihr alkoholkra­nker, 20 Jahre jüngerer Dichter-Ehemann Sergei Jessenin erhängt sich. Und kurz darauf, da ist sie mit einem bildschöne­n Kerl auf Spritztour an der Côte d’Azur, verheddert sich ihr wieder mal viel zu langer Seidenscha­l im Reifen des Cabriolets.

Das ist der todtraurig­e Rahmen dieser amüsant und pointiert erzählten Geschichte der Grande Dame des Ausdruckst­anzes. Aber vielleicht war dieses schnelle Ende die Rettung eines Mythos’? Isadora, die hellwache Athene, die zugleich wie eine Perugino-Madonna unter verschlafe­nen Lidern versonnen in die Ferne geblickt hat, steuerte auf den Ruin zu. Finanziell, physisch, psychisch. Dazu kam der Alkohol ins Spiel, denn den Tod ihrer Kinder konnte sie nie verwinden.

» Julie Birmant und Clément Oubrerie: Isadora Reprodukt, 140 Seiten, 29 Euro

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Foto: Reprodukt Die Tänzerin Isadora Duncan, wie sie Julie Birmant und Clément Oubrerie in der Graphic Novel „Isadora“dargestell­t haben.

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