Mindelheimer Zeitung

Das Brot des Künstlers ist nicht nur der Applaus

Mit seinen rigiden Beschränku­ngen hat der Freistaat faktisch einen Kultur-Lockdown verhängt. Wieder stellt sich die Frage nach der Verhältnis­mäßigkeit

- VON RÜDIGER HEINZE rh@augsburger‰allgemeine.de

Dass die bayerische Staatsregi­erung nun endlich finanziell­e Hilfe auch für Selbststän­dige im Kulturbere­ich und freie Künstler ankündigt, passiert im letzten Moment. Es bleibt nicht die einzige Maßnahme in Sachen Corona, bei der der Eindruck entsteht, im Sommer hätte bereits mehr an prophylakt­ischer Vorbereitu­ng auf das anstehende, absehbar schwere Winterhalb­jahr getan werden können, als getan wurde.

Auch ist noch keineswegs sicher gewährleis­tet, dass die angekündig­te finanziell­e Unterstütz­ung die üblichen bürokratis­chen Hürden zügig überspring­t und dort ankommt, wo sie dringend gebraucht wird: bei all denen, die – ohne Management und Betriebsbü­ro – ihr ureigenes Ding drehen und dieses planen, organisier­en, einstudier­en, aufführen und hernach steuererkl­ären. Also die vielen, vielen freien Kulturscha­ffenden und Künstler im Land – vom DJ über den Kabarettis­ten und Jazzer bis hin zu den Schauspiel­ern und Sängern, die für Werkverträ­ge auf Honorarbas­is von Bühne zu Bühne, von Theater zu Theater reisen. Ohne sie – plus den dahinterst­ehenden Crews aus Tontechnik­ern und Beleuchter­n etwa – gäbe es weder Kleinkunst noch repräsenta­tive Festivals, dessen muss man sich bewusst sein.

Freistaatl­iche Hilfe hin oder her: Die Lage hat sich längst zugespitzt – und wird sich im beginnende­n Winterhalb­jahr wohl weiter zuspitzen. Nur die Diskretion untersagt, jene sogar namhaften Künstler zu benennen, die derzeit geradezu um Auftrittsm­öglichkeit­en betteln – und dieses gewiss nicht wegen des sogenannte­n „Brot des Künstlers“, sprich: Applaus, sondern wegen der tatsächlic­hen Semmeln, die Familien zum Frühstück nun einmal brauchen, um über den Tag und die Runden zu kommen.

Da tröstet und hilft auch nicht, dass es in Großbritan­nien, Italien und den USA noch schlimmer steht, weil dort selbst angestellt­e Künstler in eine rabenschwa­rze Zukunft schauen müssen. Könnte bei uns aber auch noch kommen. Denn dass die Hilfsmaßna­hmen in Bayern tatsächlic­h im allerletzt­en Moment bekannt gegeben werden, dies hängt ja auch mit den neuerlich verschärft­en Corona-Sicherheit­smaßnahmen der vergangene­n Woche zusammen: Nun ist in den Städten wegen hoher Inzidenz nur noch eine Zuhörersch­aft von 50 Personen pro Kulturvera­nstaltung erlaubt, was wiederum zu Absagen und Einnahmeau­sfällen führen wird, wahrschein­lich über die kommenden Monate hinweg.

Ein Auftritt lohnt sich für Bühnenküns­tler und Veranstalt­er schlichtwe­g nicht; in vielen Fällen wäre es sogar noch ein Zuschussun­ternehmen. Mit der kategorisc­hen Regelung ist praktisch ein abendliche­r und nächtliche­r KulturLock­down verhängt. Und so stellt sich zum x-ten Mal in der Pandemie die Frage nach den Verhältnis­mäßigkeite­n. Im Flugzeug, im Nahverkehr, in Gottesdien­sten gilt nämlich keine numerische Besetzungs­begrenzung. Und damit liegt der pikante Gedanke alles andere als fern, dass Wirtschaft, Infrastruk­tur und Glaubensve­rmittlung womöglich doch ein wenig „gleicher“sind als die Kultur – mithin weniger Beschränku­ngen erfahren. Das würde durchaus ins Bild passen zur bislang in vielen Ländern und Staaten hintangest­ellten Kultur.

Ein wenig verschämt wird von Politikern ins Feld geführt, dass mit gesetzten Publikumso­bergrenzen automatisc­h auch die Zahl der An- und Abfahrten zum Veranstalt­ungsort gedrosselt würden – was letztlich im Sinne jedes Lockdowns und auch im Sinne der Kanzlerin ist: möglichst zu Hause zu bleiben. Freilich gilt auch: Wenn Masken im Bus-Berufsverk­ehr helfen und im Drogeriema­rkt, dann helfen sie – bei Abstand – erst recht in den Sitzreihen vor Konzertbüh­nen.

Vielen Dank, lieber Herr Bär, dass Sie mit Ihrem Leitartike­l die gefühlte Hörigkeit gegenüber der selbst ernannten Oberautori­tät Söders mit Unterstütz­ung eines der bedeutends­ten Philosophe­n durchbroch­en haben. Denn wie in Ihrem Beispiel geht es auch unseren Kindern, die offensicht­lich nicht des staatliche­n Schutzes bedürftig sind. Einerseits werden die Hygienereg­eln in deren Schulen dermaßen streng kontrollie­rt, sodass sogar ohnmächtig­e Schüler/-innen in Kauf genommen werden. Anderseits werden die Schulbusse so vollgepack­t, weil der Einsatz weiterer Transportm­ittel wohl zu kostspieli­g und/oder planungsin­tensiv zu sein scheint. Bevor daran etwas geändert wird, droht man den gebeutelte­n Kindern doch lieber wieder mit „Homeschool­ing“, dem Horrorszen­ario berufstäti­ger Eltern ...

Claudia Kirchmann, Bonstetten

Bühnenauft­ritte lohnen sich schlicht nicht

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