Mindelheimer Zeitung

Die Mahnung des genesenen Ministers

Corona Jens Spahn stellt die Bevölkerun­g darauf ein, dass das Land länger als vier Wochen herunterge­fahren werden könnte. Das RKI fordert eine effektiver­e Teststrate­gie, der Chef der Intensivme­diziner bereits Notbetrieb in Kliniken

- VON CHRISTIAN GRIMM

Berlin Frisch und gesund sieht der Gesundheit­sminister bei seinem ersten öffentlich­en Auftritt nach seiner Corona-Infektion aus. Ein siecher Jens Spahn – welches Bild hätte das gegeben in der großen Bewährungs­probe für die Regierung? Nun aber ist Spahn wieder fit. Und er ist „demütig und dankbar“, wie er sagt, „dass es so gut gelaufen ist“.

Der 40-Jährige ist jetzt einer, den das Virus heimgesuch­t hatte. „Na klar ist das etwas anderes, etwas zehn Monate zu besprechen…, oder es selbst zu haben.“Spahn hatte einen milden Verlauf, kennt aber jetzt das Gefühl der Isolation daheim. Und wie drei Viertel der Infizierte­n weiß er nicht, wo er sich angesteckt hat. Aus dieser Erfahrung heraus, dass seine Kontakte nicht nachverfol­gt werden können, leitet er die Entscheidu­ng für die neue Rigorositä­t in der Seuchenpol­itik ab. „Wir mussten die Notbremse ziehen.“

Wie Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und Vizekanzle­r Olaf Scholz (SPD) bereitet der derzeit wichtigste Minister die Deutschen darauf vor, dass nach vier Wochen die eingeschrä­nkte, aber doch recht große Freiheit zurückkomm­t. „Dass wir dann trotzdem noch vorsichtig sein müssen, auch nach diesem November, liegt auf der Hand.“Der Höhepunkt der Pandemie sei noch nicht erreicht, mahnt Spahn.

Bei seinem Auftritt in der Hauptstadt hatte er am Dienstag vier hochrangig­e Mediziner dabei. Sie alle unterstric­hen die Botschaft, dass es die Regierung und die Ministerpr­äsidenten nicht einfach weiter beim erhobenen Zeigefinge­r belassen können.

Der Präsident der Vereinigun­g für Intensiv- und Notfallmed­izin forderte sogar, dass die Kliniken wieder wie im Frühjahr auf den Notbetrieb umstellen, da die Pandemie außer Kontrolle geraten sei. „Aus ärztlicher Sicht vertretbar­e ausgesucht­e Eingriffe müssen abgesetzt und verschoben werden“, sagte Uwe Janssens. Im Klartext: Die Hüft-OP, das neue Kniegelenk oder der geplante Eingriff an der Schulter sollen ausfallen, um Schwestern und Pfleger für die Intensivst­ationen freizubeko­mmen. Inzwischen kämpfen dort knapp 2250 CoronaPati­enten um ihr Leben. Das sind sechsmal mehr als vor vier Wochen. Die Verdopplun­gszeit der schweren

Fälle liegt mittlerwei­le bei zehn Tagen. Das Problem sind laut Janssens die fehlenden Pfleger und Schwestern, die sich um die Todkranken kümmern.

Bedrückend­e Zahlen lieferte auch das Robert-Koch-Institut (RKI), oberste Seuchenbeh­örde Deutschlan­ds. Vizepräsid­ent Lars Schaade rechnete vor, dass es in Deutschlan­d zu Weihnachte­n 400000 Infizierte gäbe – wohlgemerk­t pro Tag – wenn nicht wie beschlosse­n gegengeste­uert wird. „Das überlastet mit der Zeit jedes Gesundheit­ssystem“, warnte Schaade. Aktuell sind es im Schnitt der letzten Tage 15000 Neuansteck­ungen binnen 24 Stunden, die die Gesundheit­sämter aus dem ganzen Land an das RKI melden. Zum Vergleich: Anfang Oktober pendelte der Wert um die Marke von 2500.

Weil sich der Erreger in den vergangene­n Wochen in allen Regionen stark ausbreitet und sich viel mehr Menschen infizieren als im Sommer, ächzen Behörden, Krankenhäu­ser und Labore unter der enormen Belastung. Aus diesem Grund soll die Strategie der Testung aller, die zum Beispiel leichte Erkältungs­symptome haben, aufgegeben werden. „Das ist weder nötig noch erforderli­ch“, sagte RKI-Vize Schaade. Es gehe darum, effektiv zu testen. Menschen mit Erkältungs­symptomen, die denen von Corona-Infektione­n ähneln können, sollen sich für fünf Tage isolieren und gegebenenf­alls dann einen Test machen, wenn es nicht besser wird. Aktuell werden in Deutschlan­d pro Woche 1,4 Millionen Menschen getestet, was die Labore an ihr Limit bringt. Das führt dazu, dass Ergebnisse teilweise zu spät mitgeteilt werden.

Ähnlich an der Grenze und an vielen Orten schon darüber hinaus arbeiten die Gesundheit­sämter. Spahn lobte die Behörden in Berlin, die sich um seinen Fall kümmerten, für ihren guten Dienst, aber es gibt auch zahlreiche andere Geschichte­n von Chaos, Nicht-Zuständigk­eiten und falschen Ratschläge­n. Der stellvertr­etende Fraktionsc­hef der FDP im Bundestag, Christian Dürr, erzählte vor wenigen Tagen seine eigene. Dürr hatte sich mit Corona angesteckt und schilderte „absurde Erlebnisse“.

Der Gesundheit­sminister räumte ein, dass das System am Anschlag arbeitet. „Das funktionie­rt im Moment nicht überall, wie es soll.“Durch die zweite Zwangspaus­e für Teile des öffentlich­en Lebens soll die Pandemie wieder beherrschb­ar gemacht werden.

„Na klar ist das etwas anderes, etwas zehn Monate zu besprechen…, oder es selbst zu haben.“

Gesundheit­sminister Jens Spahn

 ?? Foto: Thomas Trutschel, Imago Images ?? Wieder fit präsentier­te sich Gesundheit­sminister Jens Spahn in Berlin. Er hat die Corona‰Infektion mit mildem Verlauf überstande­n, das Land ächzt unter den Beschränku­ngen.
Foto: Thomas Trutschel, Imago Images Wieder fit präsentier­te sich Gesundheit­sminister Jens Spahn in Berlin. Er hat die Corona‰Infektion mit mildem Verlauf überstande­n, das Land ächzt unter den Beschränku­ngen.

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