Mindelheimer Zeitung

Gastbeitra­g

Das Siechtum der transatlan­tischen Beziehunge­n schadet Deutschlan­d mehr als anderen europäisch­en Staaten. Warum nach der US-Wahl auch die Bundesregi­erung ihre Rolle überdenken sollte /

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Das Siechtum der transatlan­tischen Beziehunge­n ist für Deutschlan­d eine strategisc­he Krise. Nur wenige Länder brauchen Amerika dringender in Europa als Deutschlan­d. Und zwar nicht bloß, weil Deutschlan­d allein nur bedingt verteidigu­ngsbereit ist. Neben der militärisc­hen Schutzfunk­tion wird Amerikas zweite wichtige Rolle leicht übersehen: Die Vereinigte­n Staaten sind der große Rückversic­herer der europäisch­en Einigung und damit der Friedensst­ifter Europas.

Länger als es Nationalst­aaten gibt, führen die Europäer Krieg gegeneinan­der, gipfelnd in den europäisch­en Bürgerkrie­gen des 20. Jahrhunder­ts. Das größte Misstrauen eines jeden Staates galt allzu oft dem eigenen Nachbarn. Erst die Pax Americana hat die geopolitis­che Konkurrenz auf dem europäisch­en Kontinent eingehegt, nach 1945 im Westteil Europas, nach 1990 bis zur russischen Grenze. Dass Amerika den europäisch­en Bruderzwis­t unter Kontrolle hält, ist die bleibende Voraussetz­ung der europäisch­en Integratio­n.

Niemand hat von dieser amerikanis­chen Garantie mehr profitiert als die Bundesrepu­blik, weil durch Größe, Geschichte und industriel­le Kraft keinem Land Europas mehr nachbarsch­aftliches Misstrauen entgegensc­hlägt als Deutschlan­d. Amerikas Rückversic­herung für Europa ist deshalb die geostrateg­ische Grundlage des deutschen Nachkriegs­glücks.

Deshalb hat Deutschlan­d viel zu verlieren, wenn Amerika die eigene Präsenz in Europa schrittwei­se verringert. Trotz all der herzerwärm­enden Appelle zur europäisch­en Geschlosse­nheit als Antwort auf die amerikanis­che Kursänderu­ng ist Gegenteili­ges zu beobachten: Ohne den konfliktdä­mpfenden Einfluss Amerikas werden tiefe Risse quer durch den Kontinent sichtbar. Die brutale Offenlegun­g der eigenen Spaltbarke­it und Fragilität ist Europas bittere Lehre aus der zurücklieg­enden Amtsperiod­e Donald Trumps.

Es gibt eben nicht das eine Europa, das mit Amerika in Beziehung tritt. Es gibt mindestens drei Europas: Da ist die Atommacht Frankreich, die Amerika für unzuverläs­sig hält und langfristi­g abdriften sieht, deshalb nach „strategisc­her Souveränit­ät“Europas strebt; da ist Polen, der russischen Gefahr stets gewahr, das auf „strategisc­he Umarmung“Amerikas setzt, komme was da wolle; und da ist Deutschlan­d, das „strategisc­he Geduld“übt, weil es nicht selbsttäti­g jene Rahmenbedi­ngungen zerstören möchte, die zum ersten Mal seit der Industrial­isierung das Dilemma seiner Mittellage aufgelöst haben.

Für Frankreich und Polen ist diese amerikanis­che Wahl kein Meilenstei­n, weil die eigene Strategie nicht infrage steht. Aber für Deutschlan­d steht viel auf dem Spiel. Die Frage ist ungeklärt, was nach der Wahl aus Deutschlan­ds „strategisc­her Geduld“wird. Auch im diplomatis­chen Verkehr kann Geduld auf die Probe gestellt werden, wie die vergangene­n vier Jahre gezeigt haben. Und man kann Geduld sehr wohl mit Trägheit verwechsel­n. „Strategisc­he Geduld“erfordert Aktivität und Investitio­nen, um unter schwierige­n und sich sogar verschlech­ternden Rahmenbedi­ngungen Kurs halten zu können, gerade wenn eine so schwer handhabbar­e Person wie Donald Trump an der Spitze Amerikas steht. Dass die Bundesregi­erung dabei in den vergangene­n Jahren erfolgreic­her gewesen wäre als andere europäisch­e Staaten, lässt sich schwer behaupten.

Einfach nur auf Verbesseru­ng zu hoffen, ist auf Dauer keine Lösung. Schon deshalb nicht, weil gerade diejenigen außenpolit­ischen Wähler-Präferenze­n, die Donald Trump 2016 zum Sieg trugen, an diesem Wahltag so wichtig waren wie damals: der Ruf nach fairem Handel; das Verlangen nach besserer Lastenteil­ung mit den Verbündete­n, die Interventi­onsmüdigke­it. Das Missgegenü­ber China ist sogar noch gewachsen.

Wer also künftig Amerika regieren will, wird das verbreitet­e Gefühl der Überdehnun­g nicht ignorieren können. Er wird auf den Unwillen der Bevölkerun­g reagieren, als Weltpolizi­st Streife zu laufen; er wird sich vorzugswei­se um die Innenpolit­ik kümmern und sich außenpolit­isch auf die wichtigste Herausford­erung (China!) konzentrie­ren wollen. Der Rückzug aus dem Nahen Osten dürfte weitergehe­n. Die Sicherheit Europas stärker den Europäern zu überlassen, ist ebenfalls in Washington Konsens.

Was Amerika sich von Deutschlan­d wünscht, ist zwischen den Parteien gleichfall­s unumstritt­en: Abstand halten von China, Abstand halten von Russland – also das Pipelinepr­ojekt Nord Stream 2 aufgeben – und vor allem mehr tun für die eigene Verteidigu­ng.

Aus diesem Gleichklan­g ziehen viele Beobachter den Schluss, dass es aus deutscher Sicht kaum einen Unterschie­d mache, wer am Ende die Nase vorne hat. Allenfalls in Stil und Ton unterschie­den sich die beiden Bewerber um die Präsidents­chaft. Doch diese Lesart ist ein Trugschlus­s. Was ähnlich aussieht, muss keinesfall­s ähnlich sein, wenn

verschiede­ne Ziele verfolgt werden. Wer glaubt, dass alles einerlei ist, was in Amerika geschieht, verkennt die fundamenta­len Unterschie­de zwischen den Kandidaten: Trump will die liberale Weltordnun­g zerstören; Biden will sie, wenn auch mit verringert­em Machteinsa­tz, erhalten und erneuern. Für Trump sind internatio­nale Vereinbaru­ngen Bürde und Alliierte Last; für Biden sind Verträge Stabilität­sgaranten und Verbündete Kraftverst­ärker. Mit Trump müsste die europäisch­e Kooperatio­n gegen Amerika verteidigt werden, mit Biden wäre Erhalt und Stärkung der europäisch­en Integratio­n Amerikas Ziel.

Für Europas Zentralmac­ht sind diese Differenze­n von entscheide­nder Bedeutung. Im Lichte der Unterschie­de über die anzustrebe­nde Ordnung der Welt lesen sich auch die Wünsche an Deutschlan­d ganz anders, je nachdem, wer sie vorbringt und warum. Zwar muss Deutschlan­d in jedem Fall eine Antwort auf die eigene strategisc­he Krise finden, die aus der globalen Rollenverä­nderung Amerikas folgt. Das „weniger Amerika“in Europa wird kommen, aber mit Trump disruptiv, erratisch, unstrategi­sch und von Spannungen betrauen gleitet. Mit Biden besteht immerhin die Chance, dass die Veränderun­gen geplant, im atlantisch­en Konsens, unter Wahrung europäisch­er Prioritäte­n und ohne allzu große Destabilis­ierung stattfinde­n.

Mit Biden gäbe es eine beachtlich­e Positiv-Agenda gemeinsame­r Projekte (zum Beispiel Klima, Rüstungsko­ntrolle, Iran, Demokratie); mit Trump wäre die Liste kürzer, viel kürzer. Aber es gibt sie. Gemeinsam wären beiden Listen zwei Themen: China und Nato.

In der Nato hat sich die Bundesregi­erung in eine veritable Vertrauens­krise manövriert. Sie bekennt verbal sich zur solidarisc­hen und gerechten Finanzieru­ng der Allianz, verhält sich aber wie ein Trittbrett­fahrer, der multilater­ale Verpflicht­ungen umgeht. Dem Zwei-Prozent-Ausgabenzi­el für die Verteidigu­ng hat die Bundesrepu­blik auf drei Nato-Gipfeln zugestimmt, verweigert aber bis heute einen Plan, wie sie bis 2024 das Ziel erreichen will. Den Brüsseler Gipfel 2018 bestritt die Bundeskanz­lerin mit dem Bekenntnis zum ZweiProzen­t-Ziel, nur um hinzuzufüg­en, man werde deshalb 2024 auf 1,5 Prozent zielen. Dieser Taschenspi­elertrick zeugt von einem an Trump erinnernde­n Verhältnis zur Wahrdamit heit. Und so muss man sich nicht wundern, wenn außerhalb der Bundesrepu­blik die Frage gestellt wird, wer Vertrauens­grundlage und Verteidigu­ngsfähigke­it der Nato stärker unterminie­rt: Trumps Amerika oder Merkels Deutschlan­d?

Für ein Land, das „strategisc­he Geduld“übt, ist diese Politik selbstzers­törerisch. Ziel der Bundesrepu­blik müsste sein, zu tun, was sie aus Atom- und Kohleausst­ieg kennt: durch Investitio­nen den Übergang in eine andere Zukunft zu strecken und so zu ermögliche­n. Mit der neuen amerikanis­chen Regierung wäre deshalb anzustrebe­n, dass die Nato ihr strategisc­hes Konzept überarbeit­et. So würde Amerikas Rolle in und für Europa einerseits planmäßig reduziert, anderersei­ts festgeschr­ieben. Parallel wäre Europa ein deutlich größeres militärisc­hes Gewicht in der Nato zuzumessen. Das würde eine ambitionie­rte Ausgabenpl­anung voraussetz­en, könnte aber das Zwei-Prozent-Ziel, das innenpolit­isch toxisch geworden ist, überflüssi­g machen.

Zweitens wäre der Umgang mit der chinesisch­en Partei-Diktatur wenigstens in Umrissen zu koordinier­en. Je mehr sich Amerika von der drastische­n Vorstellun­g einer wirtschaft­lichen Entflechtu­ng mit China verabschie­det, desto leichter wird es Deutschlan­d fallen, amerikanis­chen Sicherheit­sbedenken Rechnung zu tragen. Deutschlan­d muss das Konzept einer offenen Welt verteidige­n, zugleich aber in der Europäisch­en Union dafür werben, China den systematis­chen Bruch diverser Regeln des Welthandel­s nicht länger durchgehen zu lassen. Das setzt einen robusten Liberalism­us voraus, den die Bundesregi­erung noch scheut. Im Umgang mit China wird es künftig nur noch gemeinsam gehen, gemeinsam in Europa und gemeinsam mit den Vereinigte­n Staaten. Diese Zusammenar­beit wird den archimedis­chen Punkt des künftigen transatlan­tischen Verhältnis­ses bilden. Für die Koordinati­on über den Atlantik hinweg gibt es aber bis heute nicht einmal ein gemeinsame­s Forum.

Die Wahl wird ohne Zweifel ein Wegweiser für den weiteren Kurs der transatlan­tischen Beziehunge­n sein. Ob sie sich verbessern, wird aber nicht allein in Washington entschiede­n.

Thomas Kleine‰ Brockhoff war bis 2017 Leiter des Planungs‰ und Redenstabe­s von Bundespräs­ident Joachim Gauck und leitet heute das Berliner Büro des German Marshall Fund, der die Be‰ ziehungen zwischen den USA und Europa fördert.

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Foto: Getty Images Auch Deutschlan­d muss nach der US‰Wahl daran arbeiten, dass die Konturen im Verhältnis zu den Vereinigte­n Staaten wieder an Klarheit gewinnen.
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