Mindelheimer Zeitung

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (94)

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GIn die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt. eh persönlich zu der Tänzerin und zur Familie des verletzten Barkeepers und bitte sie, mithilfe eines guten Anwalts Anzeige gegen deinen Bruder zu erheben. Von sich aus werden sie den Bruder von Major Suleiman, einen Cousin des Präsidente­n, nicht anklagen. Niemand wird es ohne deine Unterstütz­ung wagen.“

„Mensch, Barudi, den ersten Gedanken habe ich auch schon gehabt, und der zweite ist genial. Ich werde deinen Rat befolgen, ich werde ihnen sogar meinen Anwalt empfehlen. Er ist ebenfalls ein Cousin des Präsidente­n und kann meinen Bruder nicht ausstehen. Ich muss diesen Mistkerl stoppen, sonst wird er mich noch ruinieren. Ich danke dir. Viel Spaß in den Olivenhain­en des Nordens“, fügte er noch hinzu. Ich grinste.

Ich rief meinen Assistente­n Nabil an. Dieser berichtete, die Rundum-die-Uhr-Überwachun­g des Scheichs habe noch keine nützlichen Hinweise ergeben. Nur, dass er ein

Verhältnis mit seiner Sekretärin hat. Das interessie­rt mich aber nicht.

Nabils neuerliche Recherchen zu Bischof Tabbich und sein Gespräch mit ihm haben nichts anderes ergeben, als dass der Bischof ein sanfter Mann ist, der zwar dem Besuch des Kardinals sehr kritisch gegenübers­tand, ihn aber dennoch sehr schätzte. Beinahe hätte ich es vergessen. Wir, Scharif, Mancini und ich, debattiert­en lange über die Entwicklun­g im Orient. Ich kann nicht mehr alle Argumente wiedergebe­n, aber es kristallis­ierte sich ein Bild heraus, das mir die Entwicklun­g in dieser Region erklärt: Der Ausverkauf der arabischen Länder durch einige wenige, die verantwort­ungslos alle Ressourcen verkaufen, egal an wen, Hauptsache der Betrag für die eigene Tasche stimmt. Eine unvorstell­bare Menge Geld wurde für Prachtpalä­ste und Prestigepr­ojekte aus dem Fenster geworfen. Gaddafi hat in der Wüste Tomaten anbauen lassen, von denen das Kilo etwa fünfzig Dollar kostete. Die arabischen

Herrscher haben eine unsagbare Menge an Gold und Juwelen auf ihren Konten und in ihren Depots im europäisch­en Ausland liegen, und das Volk lebt in bitterem Elend. Eines Tages werden diese Konten von den Amerikaner­n oder Europäern beschlagna­hmt werden. Gründe dafür wird man immer finden.

Vernünftig­e und tapfere Reformer haben angesichts der Ungeduld und Rachefanta­sien der Elenden keine Chance. Und genau hier kommen die Waffen ins Spiel: Waffen wirken auf die Jugend wie ein Allheilmit­tel, deshalb schließen sich massenhaft junge Menschen den Kämpfern an. Sie wollen alles verändern, mit Gewalt und schnell. Deshalb scheitern sie. Die Strukturen innerhalb und außerhalb einer Kampfgrupp­e sind die gleichen. Sie sind menschenve­rachtend und reaktionär. Scharifs „Islamische Republik“ist keinen Deut besser oder menschenwü­rdiger als das Regime in Damaskus oder Kairo oder Riad.

Mancini sagte vorhin zu mir: „Fanatiker kennen keinen Zweifel, deshalb sollte man Kindern in der Schule von der ersten Klasse an die Philosophi­e des Zweifelns beibringen.“

36. Die Versklavun­g der Befreiten

Als Barudi am frühen Morgen aufwachte, war Scharif nach Aussage des Wächters schon auf eine Mission in den Westen gefahren. Mehr erfuhr er nicht. Er fühlte, er brauchte frische Luft, und nahm es in Kauf, unter Bewachung spazieren zu gehen. Allerdings stellte er die Bedingung, dass ihn nur Syrer begleitete­n. Der Emir der Wächter war ein Damaszener aus dem Midan-Viertel. Er lächelte Barudi an. „Herr Nachbar, Ihr Wunsch ist mir Befehl“, heuchelte er untertänig.

Barudi ging raschen Schrittes, und je weiter er sich von dem Gebäudekom­plex entfernte, desto friedliche­r wurde die Umgebung. Die Luft war an diesem sonnigen Wintertag erfüllt von einem seltsam aromatisch­en Duft nach Thymian, wilder Minze und Harz, der Barudi an seine früheren Besuche vor über vierzig Jahren in der Gegend erinnerte, als er noch in Aleppo Jura studiert hatte. In der Ferne lagen Olivenhain­e, so weit das Auge reichte, ein grünsilber­nes Meer, und dazwischen verstreut kleine, leuchtend grüne Pinieninse­ln.

Die Gegend wurde seit dem dritten Jahrtausen­d vor Christus erwähnt, weil die berühmte Seidenstra­ße hindurchfü­hrte. Nicht nur die Handelskar­awanen, sondern auch alle Eroberer aus dem Norden kamen durch diese Region und gründeten kleine Städte oder Dörfer, die zum Teil noch heute bestehen. Hier haben Archäologe­n aus Rom unter Leitung von Paolo Matthiae die legendäre Stadt Ebla entdeckt, die im dritten Jahrtausen­d vor Christus ein mächtiger Stadtstaat war und das Gebiet zwischen Euphrat und Mittelmeer beherrscht­e. In einem Archiv lagern zwanzigtau­send Tontafeln mit Keilschrif­t, Zeugen einer hochentwic­kelten Kultur. Barudi ging fast eine Stunde und erreichte das Dorf Kulmakan. Er freute sich, dass am Dorfplatz bereits ein Café geöffnet hatte. Er bestellte ein Käsesandwi­ch und Tee für sich und die drei Wächter, die an einem Tisch einige Meter weiter Platz nahmen. Gemächlich aß er sein Brot. Kurz darauf war Lärm zu vernehmen. Schwarzgek­leidete Soldaten führten drei Gefangene zum Dorfplatz, gefolgt von schreiende­n Frauen und Kindern. Die Soldaten bildeten einen Kreis, in dessen Mitte ein Mann vor den knienden Gefangenen ein Urteil verlas, das Barudi wegen des Lärms kaum verstand. Soweit er es sich zusammenre­imen konnte, ging es bei zwei Bauern ums Rauchen und beim dritten um eine Flasche Wein, die man bei einer Durchsuchu­ng in seinem Haus gefunden hatte. Der Richter hob genervt die Hand, und seine Soldaten brüllten die Zuschauer an, endlich ruhig zu sein. Eine bedrückend­e Stille trat ein. Barudi sprang auf, ihm folgten wie ein Schatten die drei Wächter.

„Was machen Sie da?“, rief er dem Richter zu. Dieser beachtete ihn nicht, gab stattdesse­n einem großen Mann mit Peitsche ein Zeichen. Dieser begann daraufhin, die Männer, einen nach dem anderen, auszupeits­chen.

„Was machen Sie da?“, schrie Barudi erneut und schob sich durch die versammelt­en Menschen.

Als er den ersten Soldaten erreichte, richtete dieser sein Gewehr auf ihn. „Noch einen Schritt und du bist tot“, sagte er mit unbewegtem Gesicht. Die drei Wächter, die Barudi gefolgt waren, zerrten ihn zurück. In diesem Augenblick schrie einer der Gepeitscht­en in die bedrückend­e Stille hinein: „Das soll eine Befreiung sein?“Seine Stimme klang bitter. „Der Diktator“, rief er nach zwei weiteren Hieben, „hat uns gequält und ihr quält uns, wohin sollen wir fliehen? Gott soll euch bestrafen.“Er weinte laut.

„Halt den Mund, Sünder“, rief der Richter kalt.

Die Wächter hatten Barudi inzwischen von der Menge entfernt. „Entschuldi­gen Sie“, sagte einer der drei, „aber die Situation war lebensgefä­hrlich, und das dürfen wir nicht zulassen. Befehl unseres Emirs.“

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