Mindelheimer Zeitung

Nervenkrie­g

USA Schon oft ähnelten Präsidents­chaftswahl­en in Amerika einem Krimi. Das wäre in diesem Jahr ein viel zu harmloses Wort. Denn Trump kämpft mit allen Mitteln um den Verbleib im Weißen Haus. Über einen Tag, den das Land und die Welt so noch nicht erlebt ha

- VON KARL DOEMENS UND MARINA KORMBAKI

Washington Sie hupen, recken ihre Handys in die Höhe und winken wild mit Leuchtstäb­en. Es ist 20 Minuten vor ein Uhr in der amerikanis­chen Nacht, als Joe Biden in seinem Heimatort Wilmington endlich vor seine Anhänger tritt, die wegen der Corona-Pandemie neben ihren 60 Autos auf dem Parkplatz einer Veranstalt­ungshalle stehen. Doch bevor der demokratis­che Präsidents­chaftskand­idat das Wort ergreifen kann, blenden die Fernsehsen­der schnell noch eine Eilmeldung ein: Der Bundesstaa­t Florida ist gerade endgültig an Amtsinhabe­r Donald Trump gefallen.

„Bleibt zuversicht­lich!“, ruft der 77-jährige Biden der recht überschaub­aren Menschenme­nge zu. Das habe seine irische Großmutter immer gesagt. Viel mehr als diese trotzige Ansage fällt ihm nicht ein: „Wir werden das gewinnen.“

Das kann so sein. Doch fest steht zu dieser Stunde nur, dass der Wahlabend anders gelaufen ist, als es die Demokraten seit Wochen erwarteten, wenn sie mit Blick auf ihre Parteifarb­en von einer „blauen Welle“träumten. Die Umfragen schienen sie zu bestätigen: Bis zuletzt hatte Biden in Florida – dem wegen seiner demografis­chen Struktur, der frühen Auszählung und der satten 29 Wahlleute umkämpften Sunshine-State – vorne gelegen. Ein früher Sieg dort wäre ein mächtiges Signal gewesen, das Trump die

Wiederwahl praktisch verstellt hätte. Doch nun das: Florida verloren, die anderen Staaten des Sonnengürt­els im Süden der USA unsicher, die Entscheidu­ng in den Rostgürtel im Norden verschoben, der wohl erst in den nächsten Tagen Ergebnisse liefern wird.

Das ist genau jenes Albtraumsz­enario, vor dem vermeintli­che Schwarzseh­er seit Tagen gewarnt hatten: ein Wahlabend ohne Ergebnis mit einem Präsidente­n, der sich kraftstrot­zend zum Sieger erklärt. Biden hat seine karge Ansprache, in der er die Wähler zur Geduld mahnt, gerade beendet, als sich Trump zu Wort meldet. „Wir liegen weit vorne, aber sie werden versuchen, die Wahl zu stehlen!“, twittert er. Das ist in mehrfacher Hinsicht falsch und wird von Twitter flugs mit einem Warnhinwei­s versehen. Aber es ist eine wirkmächti­ge Geschichte, die der Präsident seit Wochen erzählt und immer weiter in die Hirne seiner Landsleute zu hämmern versucht.

Eine knappe Stunde nach Biden tritt der Amtsinhabe­r im Weißen Haus vor die Kameras und macht überdeutli­ch, dass er seinen Schreibtis­ch im Oval Office nicht zu räumen gedenkt. „Gewinnen ist leicht. Verlieren ist niemals leicht. Nicht für mich“, hat er am Morgen gesagt. Wer das als vorweggeno­mmene Reaktion auf eine Wahlnieder­lage wertete, irrte gewaltig. Jetzt lässt sich der Satz ganz anders lesen: Trump gibt die Wahl keinesfall­s verloren. Im Gegenteil. Er erklärt sich zum Sieger, obwohl die bisher ausgezählt­en Stimmen dafür keine Grundlage bieten. „Was mich betrifft, haben wir bereits gewonnen“, ruft er in den Saal. Alles, was das infrage stel

sei schlicht „Betrug am amerikanis­chen Volk“. Der 74-Jährige steht unter Strom. Erst vor vier Wochen hat er sich nach einer Covid-19-Erkrankung vollgepump­t mit aufputsche­nden Medikament­en selbst aus dem Krankenhau­s entlassen. Seitdem ist er wie ein Wirbelwind durchs Land geflogen, hat zuletzt fünf Auftritte in fünf Bundesstaa­ten an einem Tag hingelegt und die Begeisteru­ng seiner Fans genossen. „Es war verrückt. So etwas hat es noch nicht gegeben“, schwärmt er morgens am Wahltag, als er gleicherma­ßen übernächti­gt wie aufgekratz­t in seiner Lieblings-Talkshow „Fox & Friends“im Sender Fox News anruft und gar nicht mehr zu reden aufhören will. „Das ist die letzte Frage“, sagt irgendwann der Moderator. „Man hat uns gesagt, dass Sie losmüssen.“

Später ist es keineswegs nur das Adrenalin, das den Präsidente­n zur Ankündigun­g treibt, seine Regierung werde vor den Obersten Gerichtsho­f ziehen, um die weitere Auszählung von Millionen ausstehend­er Briefwahls­timmen zu stoppen. Juristisch ist der Vorstoß zweifelhaf­t. Doch Trump will Stimmung machen, die Legitimitä­t der Wahl untergrabe­n, seine Anhänger aufheizen. Das war stets sein Kalkül.

Das extrem komplexe amerikanis­che Wahlrecht mit spezifisch­en Regeln in jedem einzelnen der 50 Bundesstaa­ten sieht vielerorts die Berücksich­tigung aller Stimmen vor, die mit dem Poststempe­l des Wahltages eingehen, auch noch einige Tage nach dem Wahltermin. Und es verbietet beispielsw­eise in Pennsylvan­ia kategorisc­h, Briefwahls­timmen vor dem Wahltag auszuzähle­n oder auch nur vorzusorti­eren. Mehr als 100 Millionen Amerikaner haben wegen der Corona-Pandemie in diesem Jahr von der Möglichkei­t Gebrauch gemacht, ihre Stimme vorab persönlich oder per Post abzugeben. Entspreche­nd riesig ist in einigen Bundesstaa­ten der Stimmzette­lBerg, der abgearbeit­et werden muss. Die Briefwahls­timmen könnten Trump den Job kosten, das weiß er nur zu gut.

Als das politische Washington nach einer Nacht mit wenig Schlaf am frühen Mittwochmo­rgen unter strahlend blauem Himmel aufwacht, wird deutlich: Zwar hat Joe Biden gute Chancen, mit Verzögerun­g die erforderli­chen 270 Wahlmänner­Stimmen auf sich zu vereinen. Der Wüstenstaa­t Arizona scheint an ihn zu fallen. In Georgia freilich kommt die Auszählung ausgerechn­et in der tief-demokratis­chen Region um Atlanta wegen einer technische­n Panne nicht voran. In Pennsylvan­ia müssen noch hunderttau­sende Briefwahls­timmen ausgezählt werden und die dürften erfahrungs­gemäß mehrheitli­ch an Joe Biden gehen.

Aber die psychologi­sche Stimmung hat sich gegen die Demokraten gedreht: Die erhoffte Mehrheit im Senat wurde wohl verfehlt, der verhasste Senats-Mehrheitsf­ührer Mitch McConnell, den linksliber­ale Geldgeber mit einer 80-MillionenD­ollar-Kampagne torpediert­en, kann sein Mandat mühelos verteidige­n und selbst im demokratis­ch dominierte­n Repräsenta­ntenhaus gehen Mandate verloren.

Etwas ist also ziemlich schiefgela­ufen in der Kampagne der Demokraten. Auffällig ist das vor allem in Florida, das der Nation den Nervenkrie­g, zu dem die Wahl werden sollte, hätte ersparen können. Stattdesle, sen gerät eine geplante Wahlparty der Demokraten in der Pizzeria Gramps im Herzen Miamis zur Trauervera­nstaltung. Aus den Boxen hämmern die Bässe, ein weiblicher DJ legt immer neue Songs auf. Irgendwann schauen die Gäste gar nicht mehr auf den Fernsehsch­irm mit der Auszählung und auch die aufgebaute­n Kameras der TV-Stationen glotzen ins Leere: Die Führungsri­ege der lokalen Partei lässt sich nicht blicken.

Viel Zeit und Geld hatten die Demokraten in Florida investiert. Der frühere US-Präsident Barack Obama war zweimal in Miami, um vor allem die Afroamerik­aner zu mobilisier­en. Sein Ex-Wohnungsba­uminister Julian Castro wirbelte unter den Latinos. Doch Trump hält noch kräftiger dagegen. Zu Tausenden strömen seine Fans um Mitternach­t auf einen Flugplatz, um ihm besonders laut zuzujubeln, als er vor dem angebliche­n Weltunterg­ang unter einem sozialisti­schen Biden-Regime warnt. Vor allem bei den Einwandere­rn mit kubanische­r Herkunft hat diese Botschaft offenbar gezogen. Rund um die demokratis­che Hochburg Miami schneidet Biden deutlich schlechter ab als Hillary Clinton vor vier Jahren. Der Glaube, Latinos würden automatisc­h demokratis­ch wählen, erweist sich als falsch.

„Die Realität ist ganz anders“, freut sich am Wahlabend Trumps rechter Lieblingsm­oderator Tucker Carlson von Fox News: „Der Präsident, der als Rassist diffamiert wurde, schneidet nun deutlich besser bei den Latinos ab.“Das ist tatsächlic­h eine Erkenntnis der Wahlnacht: Der demografis­che Wandel in den USA wird das Land nicht nach links rücken. Doch auch Zweifel am Kandidaten

werden hinter vorgehalte­ner Hand geäußert: Ist Biden vielleicht doch zu alt, zu vorsichtig, zu blass? „Sleepy Joe“, verspottet ihn Trump seit Monaten. Schläfrige­r Joe. Tatsächlic­h hat der 77-Jährige einen Wahlkampf mit angezogene­r Handbremse gefahren – offiziell wegen der Ansteckung­sgefahren der Corona-Pandemie. Tagelang trat er gar nicht in Erscheinun­g, während der Präsident durch die USA zog. Trump werde sich quasi selber erledigen, hatten die demokratis­chen Parteistra­tegen gehofft. Doch wer in den vergangene­n Tagen durchs

Und dann tritt das Albtraumsz­enario ein

War Joe Biden doch der falsche Kandidat?

ländliche Amerika reiste, bekam Zweifel: Die Plakate in den Vorgärten und die Fahnen auf den Pick-ups signalisie­rten, dass die Euphorie für den Kandidaten Trump hier deutlich größer war als für Biden.

In den Städten und Vorstädten ist die Stimmung umgekehrt gewesen. Dort sind vor allem Frauen und Ältere von Trump und seinen Pöbeleien abgestoßen. Und von dort kommen die Briefwahls­timmen, die Biden in den Schlüssels­taaten Wisconsin und Michigan schließlic­h an Trump vorbeizieh­en und die Präsidents­chaft für den einstigen ObamaVize in greifbare Nähe rücken lassen.

Bis zum endgültige­n Ergebnis aber steht den Amerikaner­n eine Zitterpart­ie bevor. „Ich verspreche, dass wir jede Stimme zählen werden“, versichert Tom Wolf, der demokratis­che Gouverneur des Swing States Pennsylvan­ia. Die Bürger müssten sich nur etwas gedulden.

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Foto: John Locher, dpa Millionen Wähler in den USA sind hin‰ und hergerisse­n. Wie diese Anhängerin von Donald Trump, als sie von guten Wahlergebn­issen für Joe Biden hört. Es ist ein ständiges Auf und Ab der Emotionen.

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