Wie stark ist die Miliz noch?
Der IS hat noch immer hunderte Verstecke
Tunis Gut ein Jahr ist es her, dass ein US-Spezialkommando Abu Bakr Al-Baghdadi in seinem Versteck in der syrisch-türkischen Grenzregion aufspürte und erschoss. Mit dem Tod des selbst ernannten Kalifen schien die Terrormiliz endgültig erledigt. Ihr Gottesstaat auf syrischem und irakischem Territorium lag in Trümmern, die meisten Anführer waren tot, abertausende Kämpfer saßen in kurdischen und irakischen Gefängnissen. Doch die Erleichterung dauerte nicht lange.
Inzwischen operieren die Dschihadisten in den unwirtlichen Wüstengebieten zwischen Syrien und Irak wieder nahezu ungehindert. Schwer bewaffnete IS-Konvois durchstreifen die Badiya-Wüste östlich von Homs und westlich von Deir Ezzor. Erst vor zwei Monaten lieferten sich die Gotteskrieger eine einwöchige Schlacht mit der syrischen Armee, bei der 48 Soldaten starben, 50 werden seitdem vermisst. Nach Erkenntnissen westlicher Experten existieren in den dünn besiedelten Landstrichen mittlerweile hunderte, wenn nicht tausende Verstecke, alle ausgestattet mit Kommunikationstechnik, Sprit, Generatoren, Sprengstoffvorräten und Bombenwerkzeug.
Die Zahl der aktiven IS-Krieger in Syrien und Irak schätzt der jüngste UN-Bericht für den Weltsicherheitsrat auf mindestens 10000. Sie verfügen über Finanzmittel in Höhe von 100 Millionen Dollar und bewegen sich „in kleinen Zellen frei zwischen den beiden Ländern“. Gleichzeitig sitzen in den Kurdenregionen Syriens 12 000 männliche IS-Fanatiker in Haft, darunter 2500 Ausländer aus mehr als fünfzig Nationen. Kaum ein Land will diese gefährlichen Gotteskrieger zurückhaben. Und so begannen die Kurden kürzlich, die ersten 600 IS-Insassen freizulassen, von denen einige sofort wieder in der Wüste abtauchten.
Der getötete Mordschütze von Wien stand mit dem IS in Verbindung. Auch der tunesische Attentäter von Nizza, der vor einer Woche in der Kathedrale drei Menschen mit dem Messer ermordete, soll ebenfalls von IS-Hintermännern gesteuert worden sein.
Lange Zeit schien es ruhig zu sein, jetzt erleben wir kurz hintereinander Anschläge in Frankreich und Österreich. Sind Sie überrascht, dass der Terror zurück ist in Europa?
Peter Neumann: Ja und nein. Natürlich hat die Zerschlagung des sogenannten Islamischen Staats 2017/18 dazu geführt, dass diese einst so mächtige Bewegung nicht nur ihre Infrastruktur und Organisation, sondern auch ihren Mythos verloren hat. Also die Idee des Kalifats. Das hat in der dschihadistischen Szene ein paar Jahre lang zu einer Art Sinnkrise geführt: Viele Anhänger haben sich gefragt, was das alles noch soll, und man hat begonnen, sich untereinander zu bekämpfen. Jetzt hat die Szene aber ein Thema wiederentdeckt, das eine Grundspannung erzeugt und bei dem sich alle einig sind: die Mohammed-Karikaturen ...
... wie sie ein Lehrer in Frankreich im Unterricht gezeigt hatte und daraufhin bei Paris enthauptet wurde?
Neumann: Es hat aber nicht mit dem Lehrer angefangen, sondern mit dem Beginn des „Charlie-Hebdo“-Prozesses (seit September stehen die mutmaßlichen Helfer der Attentäter vor Gericht, die 2015 einen Anschlag auf das Satiremagazin verübt hatten, Deswegen hat der Lehrer das in der Schule überhaupt thematisiert. In der Islamisten-Szene ist das schon vorher hochgekocht. MohammedKarikaturen sind ein Evergreen unter Dschihadisten. Denken Sie nur an die weltweiten Eskalationen nach dem Karikaturen-Streit – ausgelöst von Mohammed-Karikaturen in einer dänischen Zeitung 2005.
Anm. d. Red.). Wie bewerten Sie die aktuelle Terrorgefahr vor diesen Hintergründen in Europa?
Neumann: Die Jahre 2017 und 2018 brachten eine Niederlage für den Islamischen Staat, aber dessen Ideen sind nicht weggegangen. Sie brauchten nur wieder einen Auflader, eine Art Dynamo, wie ich eben beschrieben habe. Und jetzt haben wir eine Situation, die gefährlicher ist als vor einem Jahr, aber nicht genauso gefährlich wie vor fünf Jahren. Damals hatten wir noch eine echte Bedrohung durch eine Organisation, die große Operationen planen konnte, mit Strategien und mit Leuten, die in Syrien trainiert wurden. Das gibt es heute nicht. Aber es ist trotzdem gefährlich, weil einige Anhänger ihre Motivation wiedergefunden haben und – metaphorisch gesprochen – aus ihren Verstecken herauskommen und wieder bereit sind, sich zu engagieren.
Die Anschläge in Nizza und in Wien ereigneten sich jeweils einen Tag, bevor Frankreich beziehungsweise Österreich in den Corona-Lockdown ging. Gibt es hier einen Zusammenhang?
Neumann: Ich glaube schon. Wahrscheinlich haben die Täter gerade dann zugeschlagen, weil sie sich gedacht haben, wenn der Lockdown erst mal da ist, sind die Menschen nicht mehr auf der Straße. Aber ich glaube nicht, dass ein Lockdown Ursache der Anschläge war. Die Lockdowns waren aber vielleicht Auslöser und haben dazu geführt, dass die Anschläge einige Tage früher stattgefunden haben.
Muss man Corona bei der Bewertung einer Terrorgefahr mitdenken? Sind etwa Behörden mit der Pandemie gerade so ausgelastet, dass sie den Terrorismus aus dem Fadenkreuz verlieren?
Neumann: Ich bin kein großer Anhänger solcher Theorien. Ich sehe hier aktuell auch keinen Zusammenhang. Und man könnte die Argumentation ja auch herumdrehen: Wir sehen, dass gerade während der Lockdowns die Kriminalität deutlich zurückgegangen ist. Man könnte also sagen, dass mehr Polizei zur Verfügung steht, weil weniger Einbrüche oder andere Delikte aufgeklärt werden müssen.
Sie haben als OSZE-Sonderbeauftragter für Kanzler Sebastian Kurz gearbeitet, als er Außenminister war. Wie nehmen Sie ihn und die Stimmung in Österreich gerade wahr?
Neumann: Ich denke, Sebastian Kurz hat sehr gut reagiert. Er hat in seiner
Fernsehansprache der populistischen Versuchung widerstanden: Er hat nicht alle Muslime dafür verantwortlich gemacht, was passiert ist, und sie so nicht zum Sündenbock gemacht. Das wäre genau das gewesen, was Terroristen wollen: die Spaltung der Gesellschaft befeuern. Und wir sehen ja auch schon in der Reaktion rechtspopulistischer Parteien wie AfD oder FPÖ, dass sie den Anschlag zugunsten ihrer politischen Ziele, aber zulasten der Gesellschaft ausschlachten wollen. Kurz hat dagegen auf die Einheit der österreichischen Gesellschaft gesetzt. Natürlich hat er Forderungen an Muslime formuliert, aber er hat deutlich gemacht, dass Muslime, die die Gesetze befolgen und sich in die Gesellschaft integrieren, genauso Österreicher sind wie alle anderen. Das ist genau das Gegenteil von dem, was Terroristen provozieren wollen, und das hat er verstanden.
Peter Neumann, 45, stammt aus Würz burg, lehrt als Politik wissenschaftler am Londoner King’s College und berät Regierun gen und Organisationen wie den UNSicherheitsrat. Seine Schwerpunkte sind der Islamismus und die Radikalisierung von Terroristen.