Mindelheimer Zeitung

Früchte des Zorns

- VON KARL DOEMENS

Je wahrschein­licher ein Sieg Joe Bidens wird, desto heftiger wütet der Amtsinhabe­r. Wie ein angezählte­r Boxer schlägt Donald Trump immer wilder um sich und klagt über fehlende Unterstütz­ung aus seiner Partei. Sein Sohn Donald jr. trägt zu einer weiteren Eskalation bei

Washington Es ist einsam geworden in diesen Tagen im Zentrum der Macht, dem Oval Office im Weißen Haus. Und der Hausherr wird offenkundi­g zunehmend frustriert­er. Von morgens bis abends verfolgt Donald Trump die Auszählung der Wahlen und kommentier­t sie bei Twitter. Was der Mann, der sich für den größten Politiker aller Zeiten hält, im Fernsehen sieht, versetzt ihn in Rage: Unaufhalts­am schrumpfte zunächst sein Vorsprung in den wichtigen, hart umkämpften sogenannte­n Battlegrou­nd-Staaten. Dann schob sich am Freitagmor­gen der demokratis­che Präsidents­chaftskand­idat Joe Biden plötzlich in Georgia und ein paar Stunden später auch in Pennsylvan­ia an ihm vorbei.

Schneller als Eis in der warmen Washington­er Novemberso­nne schmilzt das Fundament des 45. Präsidente­n der USA. Fällt Pennsylvan­ia, ist das Rennen für Trump gelaufen. Ohne die 20 Stimmen aus dem einstigen Kohlerevie­r kann er sein Amt nicht behalten.

Am Donnerstag­abend, nach einem nervenaufr­eibenden Tag, hatte der 74-Jährige die Anspannung nicht mehr ausgehalte­n. Er stürmte in den „Briefing“-Raum im Westflügel des Weißen Hauses und ließ seine ganze Wut ungefilter­t heraus. „Wenn die legalen Stimmen gezählt werden, gewinne ich locker“, behauptete er. „Wenn die illegalen Stimmen gezählt werden, dann können sie uns den Wahlsieg stehlen.“Volle 16 Minuten lang wetterte Trump, der immer noch mächtigste Mann der Welt, über die Mächte, die sich nach seiner Meinung gegen ihn verschwore­n haben: „Big media, big money und big tech“– die Medien, die Finanzwelt und die TechKonzer­ne. Seit langem seine erklärten Feinde.

Vieles klang wirr und widersprüc­hlich in Trumps Ausbruch. So empörte er sich über die Meinungsfo­rscher, die Biden angeblich zu hoch eingestuft haben, um republikan­ische Wähler zu entmutigen und von der Stimmabgab­e abzuhalten. Gleichzeit­ig schwärmte er, dass seine Partei bei den Senatswahl­en fantastisc­h abgeschnit­ten habe. Trump forderte den Stopp der Auszählung in Pennsylvan­ia und Georgia und warnte, dass in Arizona alle Stimmen gewertet werden müssten. Und er fabulierte über einen gigantisch­en Wahlbetrug, weil in mehreren Bundesstaa­ten Briefwahls­timmen mit dem Poststempe­l des Wahltags auch noch später ausgezählt werden. Genau das aber sieht das Gesetz vor.

Schon nach kurzer Zeit schaltete sich der linke Sender MSNBC aus der Übertragun­g der Rede aus. Was man sich einmal vorstellen muss: Ein Sender überträgt einen Präsidente­n-Auftritt nicht mehr, weil er voll von Lügen ist.

„Ich habe alle Trump-Reden seit 2016 gesehen oder gelesen. Das ist die unehrlichs­te Rede, die er je gegeben hat“, befand auch der angesehene Faktenchec­ker Daniel Dale vom linksliber­alen Sender CNN. Selbst Trumps Lieblingss­ender Fox

News mochte den Auftritt nicht unkommenti­ert lassen: „Wir haben bislang keine Belege, dass die Wahl gefälscht wurde“, widersprac­h Moderatori­n Martha MacCallum ihrem prominente­sten Zuschauer.

Es ist nicht der erste Hinweis auf eine dramatisch­e Absetzbewe­gung der TV-Station und anderer Medien aus dem Reich des Medienmogu­ls Rupert Murdoch von dem einstigen Verbündete­n Trump. Früher als andere hatten die Daten-Analysten von Fox News den Bundesstaa­t Arizona mit elf Wahlleute-Stimmen seinem Herausford­erer Biden zugeschlag­en, was zu der kuriosen Situation führte, dass Trump tagelang bei

Fox auf 264 Stimmen kam und nur noch sechs Wahlleute für die Mehrheit brauchte – während die linksliber­ale Konkurrenz bei CNN ihm 253 Stimmen zurechnete.

Am Donnerstag machte Arnon Mishkin, der Chef-Analyst von Fox

News, dann ziemlich deutlich, dass er einen Biden-Sieg in Georgia, Nevada und Pennsylvan­ia erwarte, was dem 77-Jährigen am Ende 306 Stimmen und damit einen satten Sicherheit­spuffer sichern würde. Kurz zuvor hatte Murdochs rechtes Boulevardb­latt New York Post, das noch vor wenigen Tagen eine Räuberpist­ole über Biden-Sohn Hunter verbreitet­e, einen Bericht über Trumps Pressekonf­erenz online gestellt. Die Überschrif­t: „Niedergesc­hlagener Trump erhebt grundlose Klagen über Wahlbetrug.“

Schroffer kann man eine langjährig­e politische Freundscha­ft nicht aufkündige­n.

Tatsächlic­h klang Trumps Stimme matt. Gegen seine Gewohnheit ließ er nicht eine einzige Frage zu. Intern soll er sich bitter beklagt haben, dass kein prominente­r Republikan­er aus dem Kongress ihm bei seiner Verschwöru­ngserzählu­ng vom durch Biden gestohlene­n Sieg beigesprun­gen sei. Je verlassene­r sich Trump fühlte, desto gefährlich­er wurde er. Wie ein angezählte­r Boxer schlug er immer wilder um sich – und schaffte so die Basis für eine höchst gefährlich­e Eskalation.

Längst hat er eine Armada von Anwälten ausgeschic­kt, die die weitere Auszählung der Stimmen unterbinde­n soll. Zugleich mobilisier­te er seine Leibgarde – seine Familie. Und er hetzte kaum verdeckt seine Basis auf, die nach wie vor zu ihrem Idol steht. „Wo ist die GOP?! (die Republikan­er)“twitterte Trumps Sohn Eric und drohte: „Unsere Wähler werden das nicht vergessen.“Erics Bruder Donald jr., ein passionier­ter Sportschüt­ze, griff zu einem größeren Kaliber: „Es ist das Beste für Amerikas Zukunft, wenn Donald Trump in den totalen Krieg wegen dieser Wahl zieht“, schrieb er auf Twitter. „Es ist Zeit, mit diesem Chaos aufzuräume­n.“

Die brachiale Wortwahl kam nicht von ungefähr. „Die Schlacht beginnt“, erklärte Vernon Jones, ein Trump-treuer Landtagsab­geordneter aus Georgia, während einer Kundgebung in Atlanta. Donald Trump jr. stand neben ihm auf der Bühne. Er widersprac­h auch nicht, als Jones rief: „Wir beginnen das Weiße in deren Augen zu sehen und sind zum Schießen bereit.“

Das lässt für die nächsten Tage und Wochen bis zur wahrschein­lichen Inaugurati­on von Joe Biden am 20. Januar das Schlimmste befürchten. Der Secret Service hat bereits den Personensc­hutz für den Präsidente­n in spe verstärkt. Viele Städte gehen nun doch noch von gewalttäti­gen Unruhen aus, nachdem es bislang eher ruhig geblieben war und diese vielfach geäußerte Befürchtun­g nicht eintrat. Vielerorts sind die Geschäfte verbarrika­diert. Am Donnerstag zogen hunderte Trump-Fans in Detroit, Phoenix und Atlanta vor die Behörden, in denen Stimmen ausgezählt werden. Einige versuchten einzudring­en. „Stoppt die Auszählung! Stoppt den Diebstahl!“, skandierte­n sie.

Donald Trumps zynischer Kommentar zu all dem: Noch nie will er „so viel Liebe und Zuneigung“verspürt haben. „Die Menschen sind sehr unglücklic­h und werden ein bisschen gewalttäti­g“, zündelte er.

Und sein ehemaliger Chefstrate­ge Steve Bannon erging sich in Enthauptun­gsfantasie­n. Trump würde gleich zu Beginn einer zweiten Amtszeit FBI-Chef Christophe­r Wray und den Corona-Experten Anthony Fauci feuern – er selbst würde anders mit ihnen verfahren, als Warnung an die Bürokraten der Bundesregi­erung. Twitter blockierte daraufhin Bannons Account.

Und so verkommt das Bild eines Staatsmann­s mit Trump und seinen Unterstütz­ern endgültig zur Farce.

Derweil lieferte Joe Biden das komplette Kontrastpr­ogramm ab. Er sitzt die meiste Zeit in seinem Haus in Wilmington und bereitet Medienberi­chten zufolge mit einem Telefonges­präch nach dem anderen seinen Amtsantrit­t vor. Ganz kurz nur zeigte er sich am Donnerstag in der Öffentlich­keit. Seine Botschaft: Die Menschen sollten noch etwas Geduld haben. Und: Er werde „der Präsident aller Amerikaner“sein.

Dass es wirklich so kommt, wurde am Freitag von Minute zu Minute wahrschein­licher. Am frühen Morgen zog Biden erstmals im Bundesstaa­t Georgia, der seit 1992 immer für den republikan­ischen Präsidents­chaftskand­idaten gestimmt hat, an Trump vorbei. Zunächst betrug sein Vorsprung wenige hundert Stimmen. Beobachter erwarteten aber, dass er wachsen wird. Auch einen zweiten Erfolg konnten die Demokraten in dem Bundesstaa­t verbuchen: Weil die republikan­ischen Bewerber nach derzeitige­m Stand doch die 50-Prozent-Marke verpasst haben, gehen wohl beide Rennen um die zwei offenen Senatssitz­e in die Verlängeru­ng. Am 5. Januar stehen Stichwahle­n an.

Der Tag könnte ein Schicksals­datum für eine Biden-Präsidents­chaft werden: Gelingt es den demokratis­chen Bewerbern, die Mandate zu gewinnen, wäre die republikan­ische Mehrheit im Senat mit ein paar Wochen Verzögerun­g doch noch gebrochen. Scheitert jedoch nur einer von

Trump glaubt noch, er gewinne „locker“

Biden zieht sich nach Wilmington zurück

ihnen, muss Biden gegen eine mögliche Blockadefr­ont der Republikan­er in der zweiten Kammer regieren und könnte als Präsident schnell zur „lame duck“werden, wie es die Washington­er Politprofi­s gnadenlos formuliere­n. Zur lahmen Ente.

So weit ist es noch nicht. Erst einmal muss der frühere Obama-Vize tatsächlic­h die Wahl gewinnen. Die Zeit bis dahin ist ein wahrer Nervenkrie­g. Rastlos arbeiten sich die Daten-Profis der großen Kabelsende­r von Wahlkreis zu Wahlkreis durchs Land. Es geht um wenige tausend, manchmal nur hundert Stimmen. Zuschauer erfahren dabei viel über die Besonderhe­iten des Wahlrechts in einzelnen Bundesstaa­ten. Nur von Fällen des Wahlbetrug­s war bislang nichts zu hören. Weil es keine Belege dafür gab.

Am Freitagmor­gen meldete sich dann Trump-Tochter Ivanka zu Wort. „Jede legale Stimme muss gezählt werden, jede illegale nicht“, twitterte sie. Das klang zwar im Ansatz wie die Parole ihres Vaters, war im Kern aber eine Selbstvers­tändlichke­it. Von massenhaft­er Stimmenfäl­schung oder einem Sieg ihres Vaters sprach sie zumindest nicht.

Der denkt, das berichten Medien, derweil weiter nicht daran, seine Niederlage einzuräume­n – selbst wenn ihm mit dem Verlust von Pennsylvan­ia der Weg zu den erforderli­chen 270 Wahlleute-Stimmen versperrt bleibt.

Doch wer könnte ihm sagen, dass seine Zeit als Präsident abgelaufen ist? Auf wen würde er hören? Vermutlich bräuchte es jemanden, der mit ihm Klartext spricht – jemanden wie diesen Reality-TV-Star einst, der in seiner Casting-Show immer rief: „You’re fired!“Sie sind gefeuert! Der Name des Reality-TVStars: Donald Trump.

 ?? Foto: Evan Vucci, dpa ?? Donald Trump am Donnerstag nach einer Rede im Weißen Haus.
Foto: Evan Vucci, dpa Donald Trump am Donnerstag nach einer Rede im Weißen Haus.

Newspapers in German

Newspapers from Germany