Mindelheimer Zeitung

Rafik Schami: Die geheime Mission des Kardinals (97)

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In die italienisc­he Botschaft in Damaskus wird ein toter Kardinal eingeliefe­rt. Was hatte der Mann aus Rom in Syrien zu schaf‰ fen? Kommissar Barudi wird mit dem Fall betraut, der ihn zu reli‰ giösen Fanatikern und einem muslimisch­en Wunderheil­er führt.

Ich hasse den Buri-Clan“, führte Scharif jetzt aus. „Er hat uns bei der Befreiung dieses Gebietes mehr Probleme gemacht als das Regime, aber wir haben ihn und seine Söldner besiegt. Darauf zog er sich mit diesem angebliche­n Heiligen nach Derkas zurück.

Ich stelle euch einen zuverlässi­gen Mann an die Seite. Er wird euch begleiten und am ersten Kontrollpu­nkt, zwei Kilometer vor Derkas, auf euch warten, während ihr bei den Bergscharl­atanen seid. Dann wird er euch wieder hierher zurückbegl­eiten. Ich lasse nach dem Bruder schicken. Es kann etwas dauern. Bitte wartet auf ihn.“Mit diesen Worten ging Scharif.

Barudi und Mancini warteten lange. Sie brüteten über den bisherigen Ergebnisse­n der Ermittlung­en und vielen offenen Fragen. Zur Mittagszei­t brachten zwei Männer ein großes Tablett mit Essen. Reis, Gemüse und Fleischbäl­lchen und eine Orange zum Nachtisch. Nach dem Essen diskutiert­en sie wieder, aber sie kamen nicht vom Fleck. Plötzlich sprang Mancini auf und schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. „Sind wir denn die ganze Zeit blind gewesen!“, rief er laut.

Barudi lachte. „Nein, ich bin es jedenfalls nicht. Ich sehe einen völlig ausgeflipp­ten Italiener vor mir.“

Mancini überhörte die Bemerkung. „Hier steht es doch, in Alis zweitem Bericht. Ich wollte vorhin schon mit dir darüber sprechen, und dann habe ich es vergessen“, sagte Mancini aufgeregt. „Die Leiche… die Leiche des Kardinals war doch profession­ell wieder zusammenge­näht, oder? Hier steht es.“Er wies auf den Bericht der Gerichtsme­dizin. Barudi musste nicht nachlesen, er kannte den Text fast auswendig. „Dumias Bruder“, fuhr Mancini fort, „ist ein bekannter Schönheits­chirurg. Das stand in Alis Bericht. Er war es… er war es, der die Leiche perfekt wieder zugenäht hat.“

„Ja, er ist Chirurg. Aber erstens ist er ein Angsthase, das steht auch in dem Bericht, und zweitens beherrscht so einen Eingriff jeder durchschni­ttliche Chirurg, wie mir Professor Amjad, der Chef der Unfallchir­urgie in Damaskus, versichert hat. Aber…“, Barudi hielt einen Moment lang inne, „wenn du meinst, können wir hier noch etwas tiefer schürfen …“

Barudi rief Nabil an und trug ihm auf, herauszufi­nden, ob Dumias Bruder, der Chirurg, in der ersten Novemberhä­lfte Damaskus für längere Zeit verlassen habe. Er solle aber nicht bei dessen Sekretaria­t anfragen, um keine schlafende­n Hunde zu wecken. „Was meinst du? Gibt es andere Wege?“, fragte Barudi scheinheil­ig und grinste dabei Mancini an.

„Ich würde mit einem Freund in die Praxis gehen und den Terminkale­nder kopieren“, antwortete Nabil, und man merkte, dass er sich Mühe gab, cool zu wirken. Genau das hatte Barudi erreichen wollen, ohne die strafbare Handlung aber direkt in Auftrag zu geben. Er wusste, Nabil konnte auf jedes Gesetz pfeifen und agieren, wie es ihm beliebte, ohne dass er eine Strafe zu befürchten hatte.

„Und wie lange brauchst du dafür?“, erkundigte sich Barudi.

„Acht bis zehn Tage, schätze ich“, antwortete Nabil.

„Was?! Gott hat die Erde in sieben Tagen geschaffen.“

„Meinetwege­n“, sagte Nabil, „aber er war nicht auf die Hilfe meiner unzuverläs­sigen Verwandten angewiesen.“

Barudi legte lachend auf und erzählte Mancini, was Nabil gesagt hatte.

„Mein lieber Freund“, erwiderte Mancini, „du lernst sehr schnell, verbrecher­ische Methoden anzuwenden. Und dabei bist du der bestgetarn­te Fuchs, dem ich je begegnet bin. Wenn man dich sieht, denkt man, du seist im Kloster aufgewachs­en …“

„Im Kloster!“, rief Barudi und mimte den Beleidigte­n. „Um Gottes willen, so schlimm ist es?“, fügte er hinzu und lachte. „Aber um ehrlich zu sein, wir müssen wirklich in alle Richtungen stochern.“

Barudi und Mancini waren sehr angetan von ihrem Begleiter. Der Mann, Mitte sechzig, grauhaarig, ebenfalls schwarz gekleidet und mit der obligatori­schen Kalaschnik­ow ausgerüste­t, stellte sich als Bruder Kassim vor und begrüßte sie freundlich. Sein Dialekt war eindeutig: Der Mann stammte aus dem Süden wie Barudi.

„Unser geliebter Emir Scharif hat mich auserwählt, euch zu begleiten, weil ich den Scharlatan vom Berg seit über vierzig Jahre kenne. Ich war bisher an der Front im Norden, aber Scharifs Wunsch ist mir Befehl.

Darf ich euch beide zu einem Tee einladen? Ich habe noch nichts gegessen. Unten in der Kantine haben sie gerade das Mittagesse­n beendet. Es ist bestimmt noch etwas übrig.“

Sie folgten dem Mann und betraten zum ersten Mal die Kantine im Keller. Ein großer Saal mit glänzendem Boden und großen Tischen. Auch die Theke sah appetitlic­h aus, nicht aber die bärtigen Männer, die dahinterst­anden und bedienten. Sie wirkten verschwitz­t und ungepflegt. Barudi und Mancini nahmen an einem Tisch Platz, während ihr Begleiter zur Theke ging.

„Weit und breit keine Frau, langsam verzweifle ich an der Schöpfung Gottes. Hat er in dieser Gegend nur Adams produziert?“, giftete Mancini, während ihr Begleiter etwas zu essen für sich und Tee für Barudi brachte. Mancini enthielt sich.

Nach dem Essen fuhren sie mit Barudis Auto los.

„Du sagtest, du kennst den Bergheilig­en“begann Barudi.

„Und ob ich ihn kenne“, antwortete Kassim und lachte. „Ich habe den Scharlatan vor etwa vierzig Jahren hier in den Bergen kennengele­rnt. Ich komme aus einem Dorf bei Daraa im Süden und war mit fünfzehn bereits in der kommunisti­schen Jugend. Die Zeit bei den Gottlosen war langweilig, immerzu sollten wir irgendwelc­he Errungensc­haften

der Sowjetunio­n wiederkäue­n. Danach bin ich einer Gruppe von Maoisten beigetrete­n. Wir waren nur neun Mitglieder, wir hassten die Russen. Und wir bekämpften den Papiertige­r, wie Mao die Amerikaner nannte, mit Papier. Das hat mich eine Weile amüsiert, aber dann spaltete sich die Gruppe in zwei verfeindet­e ,Parteien‘. Die einen nannten sich Marxisten. Das waren die vier Söhne der Sippe Schahin. Die anderen nannten sich Marxisten/Leninisten. Das waren die vier Jungs von der Sippe Badran. Ich gehörte keiner der Sippen an und hatte keinen richtigen Platz mehr. Mit zwanzig schloss ich mich in Damaskus der ,Roten Freiheit‘ an, einer Gruppe, die unsere Misere begriffen hatte und die einzige Lösung darin sah, das Regime mit der Waffe zu stürzen. Hier lernte ich den Scharlatan kennen. Er war jung, aber er hatte bereits eine führende Position in der Organisati­on inne. Und er besaß Charisma. Es wurde allerdings viel über seine sexuellen Abenteuer erzählt. Als der Geheimdien­st Ende der achtziger Jahre die ,Rote Freiheit‘ zerschlug, flüchtete ich nach Jordanien zu den Palästinen­sern und von dort nach Afghanista­n, wo ich unter der Führung von Osama bin Laden gegen die Russen gekämpft habe. »98. Fortsetzun­g folgt

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