Mindelheimer Zeitung

„Das Kopfsteinp­flaster ist eine Katastroph­e“

Soziales Wo es geh- und sehbehinde­rte Menschen in der Mindelheim­er Altstadt besonders schwer haben

- VON SANDRA BAUMBERGER

Mindelheim Jammern ist nicht Inge Drexels Ding. Vier Monate war sie infolge eines Knochentum­ors im Bein auf einen Rollstuhl angewiesen – und würde das gar nicht erwähnen, wenn ihr die Beobachtun­gen, die sie in dieser Zeit gemacht hat, nicht so wichtig wären. Getreu dem Motto „kein Schaden ohne Nutzen“will sie erreichen, dass es andere Behinderte leichter haben als sie damals. Deshalb steht sie nun zusammen mit Regina Feistner im Elektrorol­lstuhl und der sehbehinde­rten Stefanie Brei in der Mindelheim­er Maximilian­straße, um zu zeigen, wo es Behinderte in der Innenstadt unnötig schwer haben. Ebenfalls mit von der Partie ist Saskia Kastello vom Dominikus-Ringeisen-Werk, die für den Test im Rollstuhl Platz nimmt.

Erste Station ist der Behinderte­nparkplatz vor dem O2-Shop. Zentral gelegen und damit eigentlich optimal. Eigentlich, weil dort mit schöner Regelmäßig­keit diverse Mülltonnen ihrer Leerung harren und so den Parkplatz blockieren.

Denn selbst wenn neben den Tonnen noch eine größere Lücke bleibt, ist die für einen Beifahrer mit Behinderun­g viel zu schmal: Zum Aussteigen und Umsetzen in den Rollstuhl braucht er Platz, der hier – auch ohne die Tonnen – durch einen Fahrradstä­nder und einen Mülleimer ohnehin schon begrenzt ist. Vom Auto gleich zum Fußweg vor den Geschäften zu gelangen ist spätestens dann, wenn mehrere Fahrräder im Ständer stehen, so gut wie unmöglich.

Weil Inge Drexel aber nicht nur motzen will, hat sie sich überlegt, dass die Tonnen einfach auf dem recht breiten Gehweg auf der anderen Straßensei­te abgestellt werden könnten. „Auch auf dem Dorf müssen alle Tonnen auf einer Seite stehen, da sollte das doch auch in der Stadt kein Problem darstellen“, findet sie. Zumal damit auch gleich ein weiteres Problem behoben werden könnte: die Wildparker­ei vor der Bäckerei Fäßler. Und die Müllabfuhr müsste auch nur einmal durch die Straße fahren.

Deren Überquerun­g stellt die beiden Rollstuhlf­ahrer vor das nächste Problem: Hinter den großen Pflanzkübe­ln, die am Straßenran­d stehen, werden sie nicht gesehen – und sehen auch selbst nichts. „Eine Querungshi­lfe wäre hier wirklich sinnvoll“, sagt Inge Drexel und lotst die Gruppe weiter zum Marienplat­z. Hier sind die Ritzen zwischen den Pflasterst­einen teils so groß, dass die Räder von Rollstühle­n und Rollatoren, aber auch Krücken einfach darin stecken bleiben. Eine weitere Stolperfal­le ist das leicht erhöhte Pflaster rund um den Brunnen – auch für Sehbehinde­rte. Für Stefanie Brei sind außerdem die unterschie­dlichen Steine schwierig. „Bei diesem Wirrwarr weiß man nicht, wohin man fokussiere­n soll“, sagt sie. Außerdem vermisst sie in der Innenstadt zumindest an den wichtigest­en Punkten ein Leitlinien­system – eine gefräste Rille am Boden – anhand der sich Blinde mit Stock orientiere­n können. Ein gelbes Band auf den Stufen vor den Geschäften würde es ihr außerdem erleichter­n zu erkennen, wie viele Stufen sie da vor sich hat – die für Regina Feistner und Saskia Kastello in ihren Rollstühle­n so oder so unüberwind­bar sind.

Über die Kornstraße steuert die Gruppe nun die beiden Behinderte­n-Parkplätze vor dem Westernach­er Tor an. „Das Kopfsteinp­flaster ist eine Katastroph­e“, lautet das Urteil von Regina Feistner, die in ihrem Rollstuhl ordentlich durchgesch­üttelt wird. Dabei hat sie das Glück, nicht unter akuten Schmerzen zu leiden, mit denen das Geholper zur echten Tortur wird, und ihre Beine zumindest so weit kontrollie­ren zu können, dass sie ihr nicht laufend von den Fußstützen rutschen. Und auch der Elektroant­rieb leistet wertvolle Dienste. Saskia Kastello muss sich in ihrem handbetrie­benen Rollstuhl deutlich mehr abmühen, um auf der Buckelpist­e vom Fleck zu kommen. Vielleicht mit ein Grund dafür, dass nur wenige Behinderte den Parkplatz nutzen, der zudem – wenn jeder Meter eine enorme Anstrengun­g ist – nicht eben zentral liegt.

Es sei denn, man möchte zur öffentlich­en Toilette direkt am Tor. Vom Parkplatz sind es nur wenige Meter dorthin, aber die haben es in sich. Erst geht es über das holprige

Kopfsteinp­flaster bergauf und dann ist da die Tür: Um sie öffnen zu können, muss Saskia Kastello ihren Rollstuhl mit der Bremse sichern und die Tür dann gegen den Widerstand des automatisc­hen Schließers mit dem rechten Arm so weit aufdrücken, dass sie sich mit dem Rollstuhl dazwischen­quetschen kann. „Puh, da ist man ja fix und fertig, wenn man nur auf dem Klo war“, sagt sie. Regina Feistner hat weniger Probleme, die nach innen öffnende Tür aufzudrück­en. Dafür bekommt sie diese nicht mehr auf, als sie wieder hinaus will.

Auf dem Rückweg Richtung Innenstadt stolpert Stefanie Brei beinahe über ein Loch im Pflaster. „Ich seh’ das nicht“, sagt sie. Ebenso wenig wie die Aufsteller vor den Geschäften, die genau dort stehen, wo der Belag eben und für sie deshalb optimal ist. Wieder in der Maximilian­straße angekommen, deutet Inge Drexel zum Behinderte­nparkplatz bei Optik Pfeifer hinunter. „Da unten sind zwei große Arztpraxen, wo auch viele Schlaganfa­llpatiente­n behandelt werden – und nur ein Parkplatz. Ein zweiter wäre da wirklich

Am Behinderte­nparkplatz bereiten ein Mülleimer und ein Fahrradstä­nder Probleme

Die Ampel ist relativ gut zu erreichen, doch dann wird’s knifflig

dringend notwendig“, kritisiert sie. Denn wer als Gehbehinde­rter in die Tiefgarage fährt, kann diese nur über den Ausgang in der OchsenPass­age verlassen und hat so bis zur Praxis ein gutes Stück Wegs vor sich.

Weiter geht’s über den Übergang vor der Marienapot­heke, den Stefanie Brei wegen der eingefräst­en Rille ausdrückli­ch lobt, zur Ampel beim Imbiss „Hot Chili“. Weil am Rand der Steinstraß­e ein Streifen mit glattem Pflaster verlegt wurde, können die Rollstuhlf­ahrer sie – zumindest bis zum Laden „Va Bene“, wo der Streifen endet – beinahe problemlos erreichen. Doch dann wird’s knifflig: Der Bordstein wurde im Bereich des Übergangs zwar abgesenkt, doch zwischen Straße und Gehweg liegt jeweils eine gut vier Zentimeter hohe Stufe. „Da muss man mutig sein“, sagt Saskia Kastello.

Runter geht es noch, obwohl der Absatz dem Rollstuhl ordentlich Schub gibt. Doch als sie auf dem Rückweg mit Schwung gegen die Stufe fährt, kippt sie beinahe aus dem Rollstuhl. Auch für Leute, die mit dem Rollator und deshalb per se ein bisschen unsicher auf den Beinen sind, kann der Absatz gefährlich werden. „Das ist eine Altstadt, das ist schon klar“, sagt Inge Drexel „Und es hat sich auch schon viel getan, man darf nicht bloß schimpfen.“Aber wenn noch ein bisschen mehr getan würde, da sind sich alle einig, gäbe es noch weniger Grund dazu.

 ??  ?? Regine Feistner, Stefanie Brei, Inge Drexel und Saskia Kastello (von links) zeigen, dass es Behinderte in der Mindelheim­er Innenstadt oft unnötig schwer haben. Die Kante vor dem Brunnen auf dem Marienplat­z ist eines von vielen Beispielen.
Regine Feistner, Stefanie Brei, Inge Drexel und Saskia Kastello (von links) zeigen, dass es Behinderte in der Mindelheim­er Innenstadt oft unnötig schwer haben. Die Kante vor dem Brunnen auf dem Marienplat­z ist eines von vielen Beispielen.
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Zwischen Fahrradstä­nder und Mülleimer bleibt kaum noch Platz, um vom Auto auf den Gehweg zu gelangen. Stehen mehr Räder im Ständer, geht es gar nicht.
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Weil die Tür der öffentlich­en Toilette mit einem Schließer versehen ist, muss sich Saskia Kastello gewaltig anstrengen.
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Fotos: baus Die Pflasterri­tzen auf dem Marienplat­z sind so groß, dass das Rad des Rollstuhls darin stecken bleibt.

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